Strukturelle Gewalt (2003)
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Quelle: Eigentümlich Frei Nr. 38, Nov./Dez. 2003, S. 27-29
Die Freunde des philosophischen Realismus sehen mit einiger Skepsis auf die moderne Kulturphilosophie, die alle Erscheinungen der menschlichen Kultur als reine Geschöpfe des Geistes deutet. Realisten glauben, daß der menschliche Geist die ihn umgebende Wirklichkeit ordnet. Aber „erschafft“ er sich diese Wirklichkeit in irgendeinem relevanten Sinne? Das glauben heute vor allem die Schüler der sehr einflußreichen französischen Postmodernisten um Michel Foucault, Paul Ricœur und Jacques Derrida. Einige von ihnen gehen so weit, zu behaupten, daß es so etwas wie eine vom menschlichen Geiste unabhängige Realität überhaupt nicht gibt. Unsere gesamte Erfahrungswelt ist ihnen ein „soziales Konstrukt“, gegründet auf Konvention und Gewalt.
Im Mittelpunkt vieler Arbeiten der jüngeren Zeit stand die Rolle der Gewalt in der Bildung der menschlichen Denkschemata und Handlungsroutinen. Wie entstehen diese Schemata? Der naiven realistischen Auffassung zufolge entspringt unser Denkens einer versuchten Abbildung der Wirklichkeit; doch die Postmodernisten glauben nicht an eine vom menschlichen Geist unabhängige Wirklichkeit, die das Denken irgendwie abbilden könnte. Das Denken selbst erzeugt die Wirklichkeit, und es schafft sich diese seine Wirklichkeit mehr oder minder willkürlich. Das wirft natürlich die Frage auf, wie es kommt, daß nicht jedes Individuum in seiner eigenen selbstgeschaffenen Gedankenwelt lebt. Warum sind wir uns in der Beurteilung vieler Dinge völlig einig?
Hier kommt die Gewalt ins Spiel. Sie zwingt die Denkschemata der Stärkeren den Schwächeren auf. So werden bestimmte Schemata, die an sich weder mehr noch weniger „korrekt“ sind als irgendwelche anderen Schemata, gedankliches Allgemeingut und es entsteht die Fiktion einer objektiven Wahrheit. Alle Auffassungen, die in einer Gesellschaft weit verbreitet sind, sind auf diese Weise entstanden. Alles Geistesleben, alle Kultur ist die Frucht gewaltsamer Setzungen in der Vergangenheit. Religion und Kirche, Familie, Gemeinde, Gesellschaft, Kunst und Wissenschaft – ausnahmslos alle diese Dinge sind letztlich willkürliche Setzungen der Gewalt, und nur ihr hohes Alter verschafft ihnen den heiligen Schein der Objektivität. Es gibt sogar Autoren, die die Rundungen des weiblichen Körpers auf einen Korsettzwang des 17. Jahrhunderts zurückführen.
Vom Standpunkt der radikalen Vertreter des Postmodernismus ist es mithin sinnlos, die Institutionen unserer Kultur zu verstehen, indem man sie auf von der menschlichen Willkür unabhängige Tatbestände zurückführt. Sie können nur richtig erklärt werden, indem man aufzeigt unter welchen historischen Bedingungen die willkürliche Setzung erfolgte, der sie ihre Verbreitung verdanken. Das Vorbild für diesen Erklärungsansatz sind Foucaults berühmte und fruchtbare Studien zur „Archäologie des Wissens“, die eine große Zahl ähnlicher Untersuchungen angeregt haben.
Dieser Erklärungsansatz läßt sich aber auch verwenden, wenn man nicht wie die Postmodernisten an die Allmacht der menschlichen Willkür glaubt. Auch die philosophischen Realisten erkennen in der Gewalt ein reales Element der sozialen Welt. Auch sie können folglich die „archäologische“ Methode verwenden, mit der sich die Normalisierung der Gewalt studieren läßt. Das wollen wir im folgenden, wenn auch nur umrißhaft, für den Fall der Arbeitslosigkeit vorführen. Bevor wir uns aber an eine „Archäologie der Arbeitslosigkeit“ machen, müssen wir dieses Problem zunächste im Lichte der ökonomischen Theorie darstellen, um die „Gewalt“ überhaupt erst richtig in den Blick zu bekommen.
Im Mittelpunkt der ökonomischen Betrachtung steht die Tatsache, daß es auf dem freien Markt keine unfreiwillige Arbeitslosigkeit gibt. Es gibt sehr wohl viele Leute, die aus den verschiedensten Gründen eine Zeit lang nicht arbeiten, z.B. weil sie schlafen oder essen oder sich um ihre Familie kümmern oder einem Hobby nachgehen, oder auch weil sie gerade einfach keine Lust auf Arbeit haben. Doch wenn jemand arbeiten will, darf er auch arbeiten, und zwar zu jeder Zeit. An dieser Stelle wird gewöhnlich eingewendet, daß es durchaus nicht möglich ist, jederzeit eine nach den eigenen Vorstellungen bezahlte Anstellung zu finden. Diese Beobachtung ist völlig richtig, aber sie widerlegt nicht den Satz, daß es auf dem freien Markt keine unfreiwillige Arbeitslosigkeit gibt. Wenn ich z.B. meine Dienste als Eisverkäufer anbiete, aber nur für einen Stundenlohn von mindestens 100 Euros, so bin ich eben nicht unfreiwillig arbeitslos, wenn mir niemand eine Anstellung bietet. Es stimmt, daß man auf dem freien Markt nicht jeden Lohn erzielen kann, den man sich wünscht. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß man in einer freien Gesellschaft jederzeit arbeiten kann, wenn man nur möchte; und daß man jederzeit für Bezahlung arbeiten darf, wenn man sich nur mit einem Arbeitgeber einigen kann.
Wie wird auf dem freien Markt der Arbeitslohn bestimmt? Der Arbeitgeber tritt an Lohnverhandlungen mit bestimmten Vorstellungen über die Obergrenze des von ihm zu bietenden Lohnes heran. Er fragt sich: Um wieviel werden meine Geldeinnahmen steigen, wenn ich Herrn Maier als Schlosser einstelle? Diese Frage liefert ihm die Obergrenze dessen, was er bezahlen kann. Man beachte, daß diese geschätzte Obergrenze allein von der Leistung des Arbeiters in den Augen des Kunden (seiner Wertproduktivität) abhängt. Wie aber bestimmt sich die Untergrenze? Jeder einzelne Unternehmer ist sicherlich daran interessiert, die Löhne so niedrig wie möglich zu halten. Doch sobald er weniger bietet als andere Unternehmer, will niemand mehr für ihn arbeiten. Es ist daher der Wettbewerb der Unternehmer, der verhindert, daß die Marktlöhne allzu weit unter das Niveau fallen, das der Wertproduktivität entspricht.
Welche Rolle spielen Gewerkschaften in der Marktwirtschaft? In einer freien Gesellschaft sind sie sind rein freiwillige Zusammenschlüsse von Arbeitern. Niemand kann zur Mitgliedschaft gezwungen werden, und kein Unternehmer ist verpflichtet, mit ihnen Verhandlungen zu führen. „Arbeitskämpfe“ sind daher statthaft, aber nur in den engen Grenzen, die durch den Respekt des Privateigentums gezogen sind. Streiks sind möglich im Sinne der Vorenthaltung der jeweils eigenen Arbeit, aber ohne irgendwelchen Zwang gegenüber anderen: Kein Arbeiter darf zum Mitmachen genötigt werden, Streikbrecher dürfen nicht behindert werden, und eine Besetzung der Produktionsanlagen kommt nicht in Frage.
Unter diesen Bedingungen kann es keine unfreiwillige Arbeitslosigkeit geben. Nehmen wir etwa an, daß eine Gewerkschaft einen erfolgreichen Streik organisiert und die Löhne erhöht werden. Solange die erhöhten Löhne die durch die Wertproduktivität gezogene Grenze nicht überschreiten, kommt es zu keinen Entlassungen. Aber selbst angenommen, daß die Löhne höher gesetzt werden und einige Kollegen entlassen werden, so ist die Arbeitslosigkeit in diesen Fällen doch keinesweg unfreiwillig. Denn die entlassenen Arbeiter in unserem hypothetischen Fall beweisen schließlich durch ihre Solidarität mit den Streikenden, daß sie lieber bei dem angestrebten höheren Lohn entlassen werden wollen, als daß sie ihre Dienste zu einem niedrigeren Lohn anbieten und dadurch zu Streikbrechern werden.
Ganz anders liegen die Dinge, sobald die Gewerkschaften beginnen, ihre Ziele unter Einsatz von Gewalt zu verfolgen. Wo Lohnerhöhungen dadurch erzwungen werden, daß Prügel oder die Androhung von Prügel die Streikbrecher vertreibt, entsteht unfreiwillige Arbeitslosigkeit. Es stimmt, daß der gewerkschaftliche Zwang die Arbeitsbedingungen der verbleibenden Arbeiter verbessert. Aber dieser Vorteil der einen wird eben nur durch das Elend anderer möglich.
Heute ist dieser Zwang unsichtbar, weil er sich in den Hirnen schon normalisiert hat. Man stelle sich einen wilden Prügler vor, der mit erhobenen Augenbrauen und Fäusten sein „Schutzgeld“ erpreßt. Wenn man diesem Mann ungehindert seinen Willen läßt und sich an die Notwendigkeit der Zahlung gewöhnt, so kann es nach einigen Jahren zu einer scheinbaren Normalisierung der Verhältnisse kommen. Der vormalige Bandit ist nun ein freundlicher älterer Herr, dem man ohne zu Murren gelegentlich Geld zusteckt. Doch wehe man pflegt nicht den Brauch! Ganz ähnlich verhält es sich auch im Fall der Gewerkschaften. Die Zeiten blutiger Konfrontation vor den Werkstoren sind bei uns in Deutschland vorbei. Aber man versuche einmal, sich bei einem etablierten deutschen Unternehmen „unter Tarif“ zu verdingen; oder bei halbstaatlichen Firmen wie der Preussag auch nur angestellt zu werden, ohne gleichzeitig der Gewerkschaft beizutreten. So eröffnen sich dem „archäologischen“ Blick die Verhältnisse struktureller Gewalt unter der Oberfläche scheinbarer Normalität.
Aber schauen wir weiter. Die arbeitswilligen Menschen, die von der Kooperation mit einem einzelnen bestreikten Unternehmer abgehalten werden, strömen anderen Branchen zu und verringern dort die Löhne. Werden mehr oder minder alle Unternehmer durch gewalttätige Gewerkschaften in Schach gehalten, so finden die Arbeitslosen überhaupt keine Anstellung mehr, und es entsteht Massenarbeitslosigkeit. Nun würde eine solche Situation die Gewerkschaften recht schnell in eine große Legitimationskrise stürzen. Mit welchem Recht erzwingen sie für einige ihrer Mitglieder eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, die nur dadurch möglich ist, daß man einer großen Anzahl von Bürgern faktisch das Recht nimmt, mit einem Unternehmer ihrer Wahl zusammen zu arbeiten? Ohne besondere Vorkehrungen würde es wohl bald zu Aufständen kommen, die sehr wahrscheinlich zur Entmachtung der Gewerkschaften, andernfalls aber in den Bürgerkrieg führen würden.
Wenden wir nun unseren „archäologischen“ Blick zurück in die Vergangenheit, so sehen wir unschwer, wie sich die Gewerkschaften aus dieser für sie schwierigen Lage befreit haben: indem sie nämlich den Staatsapparat für ihre Zwecke instrumentalisiert haben, insbesondere durch die staatliche Arbeitslosenversicherung und durch die Inflation der staatlichen Notenpresse.
Es ist durchaus bedeutsam, daß es bei uns in Deutschland vor der Einführung der allgemeinen Arbeitslosenversicherung im Jahre 1927 keine Massenarbeitslosigkeit gab, wie sie nur wenige Jahre später bereits entstand, mit den bekannten politischen Folgen. Heute haben wir wieder viele Millionen Arbeitslose, und wieder wäre diese Situation gar nicht denkbar ohne die Zahlung von Arbeitslosengeld an diejenigen, denen der Zugang zum Arbeitsmarkt durch den gewerkschaftlichen Zwang versperrt ist.
Die Zahlungen der Bundesanstalt für Arbeit sind letztlich nichts als ein Schweigegeld für die Opfer gewerkschaftlicher Gewalt. Die Arbeitslosenversicherung hat nur diese eine Funktion. Sie mildert die revolutionäre Unzufriedenheit der andernfalls brotlosen Massen, und sie lenkt den Blick dieser Menschen ab von denjenigen, die für ihre Lage im Grunde verantwortlich sind. Sie ist damit ein Eckstein der strukturellen Gewalt, die die gesamte deutsche Wirtschaft in ihren Bann geschlagen hat. Den Beitragszwang stellt schon lange niemand mehr in Frage; er ist durch die lange Dauer seiner Existenz in den Bereich des Naturnotwendigen gerückt. Auch seine Zweckmäßigkeit wird kaum noch in Frage gestellt. 1925 konnte der französiche Ökonom Jacques Rueff noch weithin sichtbar den Finger auf die Wunde legen. Im Titel einer viel gelesenen wissenschaftlichen Arbeit stellte er fest: „Die Arbeitslosenversicherung verursacht Arbeitslosigkeit“. Für die heutigen Praktiker und Arbeitsmarktexperten hingegen gehören solche Erwägungen in den Bereich der Metaphysik. Niemand sieht mehr Ursache und Wirkung, aber alle zahlen brav ihre Beiträge an die BfA, und die Gewerkschaften gerieren sich weiterhin als Vorkämpfer für die Interessen der Arbeiterklasse.
Die eigentliche Ironie der ganzen Sache ist, daß das Schweigegeld letztlich von den vermeintlich Bevorteilten gezahlt wird, indem sie ihre Beiträge zur obligatorischen „Arbeitslosenversicherung“ zahlen. Was sie auf der einen Seite durch den gewerkschaftlichen Zwang gewinnen (höhere Löhne), verlieren sie auch gleich wieder durch den Obulus an die BfA. Die realen Einkommenseinbußen der vermeintlich Bevorteilten sind aber noch höher als sie im Licht dieser Tatsache erscheinen, wenn man nämlich in Betracht zieht, daß das Schweigegeld dafür bezahlt wird, daß die Empfänger gerade nicht arbeiten. Wem nützt die Arbeitslosenversicherung dann überhaupt? Die Antwort liegt auf der Hand: den Funktionären bzw. Bürokraten in den Gewerkschaften und der BfA.
Aber die BfA ist nicht die einzige Institution, die ins Leben gerufen wurde, um den Gewerkschaftsfunktionären ein künstliches Biotop zu schaffen. Ein ganz wesentlicher Grund für die Abschaffung der Goldwährung lag darin, daß sie eine permanente Anwendung des „keynesianischen“ Rezepts zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit technisch unmöglich machte. Nur unter einer Papierwährung können die Währungsbehörden ständig die Geldmenge vergrößern, in der Hoffnung, daß die Warenpreise schneller steigen als die Löhne, so daß sich die zur Wiederherstellung der Vollbeschäftigung erforderliche Reallohnsenkung ergibt. Auch diese Hoffnung war ganz auf Sand gebaut, wie der österreichische Ökonom Ludwig von Mises bereits 1931 feststellte. Der Trick funktioniert eben nur, wenn die Gewerkschaften nicht bemerken, was vor sich geht. Angesichts von mehr als vier Millionen Arbeitslosen ist es heute offensichtlich, daß die Gewerkschaften nicht ausgetrickst wurden. Dagegen haben viele andere immer noch nicht bemerkt, welches Spiel man mit ihnen treibt.
Die Liste ist bei weitem noch nicht abgeschlossen, aber wir können hier wie gesagt nicht mehr als die Umrisse des Problems aufzeigen. Wie in vielen anderen Ländern, haben sich die Gewerkschaften in Deutschland lange dem Zuzug ausländischer Arbeitnehmer und auch (im Verein mit wettbewerbsscheuen Unternehmern) dem Import ausländischer Waren entgegengestellt. Letztlich waren diese Anstrengungen genauso zwecklos wie die Einrichtung der BfA und der Bundesbank; sie haben nur dazu geführt, daß heute immer mehr deutsches Kapital die Heimat flieht. Die Importbeschränkungen haben uns die illegale Massenimmigration beschert, samt allen Begleiterscheinungen des organisierten Verbrechens, was wiederum zu noch stärkerer Regulierung des Arbeitsmarktes führte bzw. noch führen wird. Der Kausalzusammenhang mit der gewerkschaftlichen Politik ist für die meisten Bürger weiterhin unsichtbar, da die neuen Gesetze und Institutionen den Blick vom Herd des Übels ablenken. Stets erscheinen neue, scheinbar unverbundene Einzelprobleme, doch man bekommt sie nicht richtig in den Griff, weil man ihren Zusammenhang und historischen Wurzeln verkennt. Aber vielleicht gilt ja der Wahlspruch „Von den linken Kulturkämpfern lernen heißt siegen lernen“. Foucaults archäologische Methode mag hier einen Anknüpfungspunkt bieten.