Rezension: Das Genossenschaftswesen volkswirtschaftlich und soziologisch betrachtet von Ernst Grünfeld (1929)
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Quelle: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Soziologie, 5:4, Dezember 1929, S. 467
Ernst Grünfeld (Direktor des Seminars für Genossenschaftswesen an der
Universität Halle), Das Genossenschaftswesen volkswirtschaftlich und
soziologisch betrachtet. (Handbuch des Genossenschaftswesens in 4
Bänden herausgegeben in Gemeinschaft mit Dr. Julius von Gierke,
Professor der Rechte an der Universität Göttingen, und Dr. Karl
Hildebrand, Generalrevisor beim Verband der Deutschen
Raiffeisen-Genossenschaften, Dozent für Genossenschaftswesen an der
Handelshochschule Berlin, von Professor Dr. Ernst Grünfeld, I. Bd.)
Halberstadt, H. Meyers Buchdruckerei, Abt. Verlag, 1928, Groß 8°, XIII
und 351 Seiten, geb. M. 22,50, brosch. M. 20,25.
Die Errichtung von Genossenschaften bildete in nicht allzulang
zurückliegender Zeit einen wesentlichen Punkt weitgestreckter
wirtschaftspolitischer Programme. Von den Konsumgenossenschaften, von
den Produktivgenossenschaften und von den Genossenschaften der
Landwirte erwartete man, daß sie den Kapitalismus überwinden und eine
neue Epoche gesellschaftlicher Wirtschaft herbeiführen werden. Die
Entwicklung des Genossenschaftswesens hat alle diese Erwartungen zu
Schanden gemacht, doch sie hat der Genossenschaft als Unternehmungsform
ein Betätigungsfeld zugeteilt, das ihr nicht so bald genommen werden
kann. Es ist daher zu begrüßen, daß man allmählich daran geht, die
rechtlichen, wirtschaftspolitischen, betriebstechnischen und allgemein
soziologischen Probleme des Genossenschaftswesens eingehender zu
bearbeiten. Das „Handbuch des Genossenschaftswesens“ will diese Aufgabe
mit besonderer Berücksichtigung der deutschen Verhältnisse lösen. Ein
Band soll die juristischen, zwei Bände die betriebswirtschaftlichen
Fragen behandeln; der vorliegende ist den volkswirtschaftlichen und
soziologischen gewidmet.
Für den Interessenkreis dieser Zeitschrift kommt in erster Linie der
„Soziologie des Genossenschaftswesens“ überschriebene Abschnitt (S.
42—49) in Betracht. Der Verfasser leitet ihn mit der Feststellung ein,
daß von einer soziologischen Behandlung des Genossenschaftswesens
bisher, wenn man von gelegentlichen Bemerkungen absieht, kaum die Bede
sein kann. Dementsprechend vermag auch Grünfeld, wie es das Wesen eines
Handbuches, das sich im Einzelnen auf monographische Vorarbeiten
stützen muß, bedingt, kaum mehr zu bringen als einige Andeutungen über
das, was auf diesem Gebiet zu leisten wäre. Man vermißt in dieser
Skizzierung der Probleme die Erwähnung der Betätigung der
Genossenschaften im Dienste politischer, religiöser, kultureller und
nationaler Ideen. Man kann und darf aber das Genossenschaftswesen nicht
ohne Berücksichtigung dieser Betätigung soziologisch betrachten. Daß
die Genossenschaften Ideen gedient haben, die ihrem nächsten
wirtschaftlichen Zweck fremd waren, das allein rechtfertigt m. E., das
Genossenschaftswesen nicht nur rechtlich und betriebstechnisch, sondern
auch wirtschaftspolitisch als eine einheitliche Erscheinung anzusehen.
In der Geschichte der sozialen, religiösen und nationalen Kämpfe der
letzten Jahrzehnte ist den Genossenschaften eine große Rolle
zugefallen. Der charismatische Führer, von dem Grünfeld spricht, war in
der Regel ein Mann, dem ganz bestimmte Ziele der Art, die man als
außerwirtschaftliche zu bezeichnen pflegt, vorschwebten. In der
Darstellung der Entwicklung der einzelnen Kategorien von
Genossenschaften in den verschiedenen Ländern kommt Grünfeld auf diese
Einflüsse immer wieder zu sprechen; daß er sie in dem soziologischen
Abschnitt außer acht läßt, ist daher umso auffallender.
Alles in allem haben wir es hier mit einer ganz vortrefflichen Leistung
zu tun, mit einem Buch, an dem niemand, der Aufschluß über irgend eine
Frage des Genossenschaftswesen sucht, wird achtlos vorbeigehen können.
Prof. L. Mises (Wien)