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Wirtschaftlicher Liberalismus (1959)

1. Liberalismus und Nationalökonomie
2. Aufstieg und Niedergang des Liberalismus
3. Liberalismus und Sonderinteressen
4. Vorrang des Verbrauches und Freiheit des Marktes
5. Liberalismus und Außenhandel

2. Aufstieg und Niedergang des Liberalismus

Man pflegt die geschichtliche Leistung des Liberalismus als
Industrialisierung und Kommerzialisierung zu bezeichnen. Genauer wäre
es, von der Eröffnung eines Zeitalters von Massenproduktion zur
Befriedigung der Bedürfnisse der Massen zu sprechen. In der
vorliberalen Zeit arbeiteten die Gewerbe vorwiegend oder ausschließlich
für den Bedarf der bessergestellten Schichten. Die Fabriken warfen sich
von Anfang an auf die Erzeugung der billigsten Waren, die vor allem für
den Gebrauch der breiten Schichten bestimmt waren. Erst später, als der
Kapitalismus die allgemeine Lebenshaltung gehoben hatte, wurde es
lohnend, immer bessere Ware fabrikmäßig zu erzeugen. Es ist ein
charakteristisches Merkmal des liberalen Zeitalters, daß die Arbeiter
und Angestellten die Mehrheit der Kunden bilden, die, nach dem
bekannten Ausspruch, immer recht haben.

Wenn auch Italiener, Franzosen und Niederländer Bedeutsames zur
Entwicklung der liberalen Ideen beigetragen haben, so muß man doch
England und Schottland als die Wiege bewußt liberaler Politik
bezeichnen. Eine Reihe von Denkern, die mit David Hume und Adam Smith
abschließt, bereitete den Weg, auf dem dann im 19. Jh. nicht minder
hervorragende Nationalökonomen und Politiker fortschreiten konnten. Im
Rahmen der überkommenen vorliberalen Wirtschaftsordnung gab es keine
Verwendung für einen sich beständig vergrößernden Prozentsatz der
wachsenden Bevölkerung. Aus diesen Überzähligen rekrutierten sich die
Arbeiter und meist auch die Unternehmer der neuen Betriebe. Die
Wirtschaftsfreiheit siegte, weil sie die Armenhäuser und Zuchthäuser
entlastete und ein Lumpenproletariat von Bettlern und Vagabunden in
Verdiener verwandelte. Die Lebenshaltung der Arbeiter und die
Arbeitsverhältnisse in den Fabriken und Bergwerken der Periode, die man
als die "Industrielle Revolution" zu bezeichnen pflegt, waren recht
schlecht, stellten aber doch schon eine bedeutende Verbesserung dar
gegenüber dem, was das System der "guten alten Zeit" den betreffenden
Schichten geboten hatte. Die Bevölkerungszunahme – in England von 81/2
Mill. 1770 auf 16 Mill. 1831 – spricht ein deutliches Wort.

In keinem Lande ist das liberale Programm voll verwirklicht worden.
Großbritannien, seine Dominien, die USA und einige kleinere europäische
Länder kamen in der zweiten Hälfte des 19. Jh. dem Ideal am nächsten.
Auch in der Geschichte Frankreichs und des Deutschen Reiches kann man
von einer liberalen Epoche sprechen. Einzelne liberale Ideen haben auch
in die Wirtschaftspolitik der übrigen Länder Europas und Amerikas
zeitweise Eingang gefunden. Doch außerhalb Westeuropas und der von
Angelsachsen besiedelten überseeischen Länder blieb alles Liberale
immer ein vom Auslande importiertes Fremdes, das man nur duldete, weil
man ausländisches Kapital ins Land ziehen wollte.

Die schrittweise Verdrängung des Liberalismus begann überall,
selbst in England, schon zu einer Zeit, in der die Verwirklichung
mancher Punkte des liberalen Programms noch Fortschritte machte. Der
Liberalismus wird durch die Lehren der Nationalökonomie erläutert und
gerechtfertigt. Man kann ihn nur begreifen, wenn man auf die
Nationalökonomie zurückgeht. Das erschien den Staatsmännern und schon
gar den Wählern bald zu mühsam. Sie begrüßten die neue Lehre, die alle
Nationalökonomie als wirklichkeitsfremde Abstraktion verwarf und durch
eine vermeintlich realistische Betrachtungsweise zu ersetzen empfahl.
Man legte sich eine vermeintlich naturrechtliche Freiheitsdoktrin
zurecht, die mit dem Liberalismus von Adam Smith und Richard Cobden
nichts gemein hatte und immer mehr sozialistisches und
interventionistisches Ideengut aufnahm. Als charakteristisches Beispiel
sei die Frage der Einkommens- und Vermögensgleichheit genannt. In der
Marktwirtschaft ist Ungleichheit der Einkommen und Vermögen wesentlich.
Eine der Funktionen des Marktes ist es, durch Gewinn und Verlust der
Unternehmer die Verfügung über die Produktionsmittel in die Hände jener
zu leiten, die sie für die beste und billigste Versorgung der
Verbraucher zu verwenden wissen. Die beispiellose Hebung der
Lebenshaltung, die der Kapitalismus brachte, war nur möglich, weil man
lange Zeit hindurch der Bildung von "bürgerlichem“ Reichtum keine
unübersteigbaren Hindernisse in den Weg legte und es verschmähte, den
minder leistungsfähigen Erzeuger gegen den Wettbewerb des
leistungsfähigeren zu schützen. Das Gleichheitsideal einer Gesellschaft
von autarken Bauern wird unsinnig, wenn es auf die Verhältnisse einer
industriellen Wirtschaft übertragen wird. Die Steuersätze
zeitgenössischer Einkommen- und Erbschaftsbesteuerung sabotieren die
Marktwirtschaft. Sie sind Maß- (599) nahmen zur Überleitung der
Wirtschaft in ein sozialistisches System, das möglicherweise viel
schärfere Ungleichheit der Lebenshaltung seiner Genossen kennen wird.

Der Liberalismus war dem Untergang verfallen, als die Generation,
die auf Cobden und Ludwig Bamberger folgte, das Wesen und die Funktion
des Unternehmergewinns, des Sparens und der Kapitalbildung nicht mehr
begriff. Dem, der mit Nationalökonomie nicht vertraut ist, erscheint
alles Einkommen, das nicht aus Löhnen und Gehältern stammt, als
unverdienter Abzug vom Arbeitsertrag. Das Einkommen der Unternehmer und
die Bezüge von Direktoren der Großunternehmungen oder von Kunstgrößen
erscheinen nur soweit gerechtfertigt, als sie das übliche Ausmaß von
Gehältern nicht zu weit übersteigen. Dabei beachtet man nicht, daß es
eine freie Volksabstimmung ist, die dem Erzeuger eines Artikels oder
einem Kinostar das fragliche Einkommen zuweist.

Alle wirtschaftspolitischen Neuerungen, die in West- und
Mitteleuropa nach 1880 und in den USA nach 1920 erfolgten, waren von
antiliberalen Ideen getragen. Um das Ende der 1880er Jahre verkündete
Sidney Webb, daß "die ökonomische Geschichte des Jahrhunderts eine fast
ununterbrochene Aufzählung der Fortschritte des Sozialismus ist".
Wenige Jahre später erklärte ein britischer Staatsmann, William
Harcourt, daß "wir alle" heute Sozialisten sind. Daß die wesentlichen
Einrichtungen, die der Liberalismus geschaffen hatte, noch bis zum
Ausbruch des ersten Weltkriegs unangetastet blieben und daß selbst
heute noch in Nordamerika und in Westeuropa dem privaten Unternehmer
ein Betätigungsfeld offensteht, war nicht etwa einem Fortwirken der
liberalen Lehre zuzuschreiben. Die offenkundig unbefriedigenden
Ergebnisse der sozialistischen und interventionistischen Experimente
verlangsamten das Tempo der antiliberalen Reformen.

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