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1. Einleitung: Grundbegriffe

I.
II.

II.

[S.98] Jede Person weiß, was es bedeutet, eine Aussage als wahr zu behaupten.[FN2] Da man, wollte man das Gegebensein solchen Wissens bestreiten, die Aussage des Gegenteils als wahr zu behaupten hätte, kann die entsprechende Kenntnis sogar als apriori gegeben vorausgesetzt werden.

Versteht nun eine Person, was es bedeutet, einen Wahrheitsanspruch zu erheben, so muß eingeräumt werden, daß sie auch weiß, was es heißt, entsprechend einer von allen Personen als ‚fair’ oder ‚gerecht’ interpretierbaren Regel zu handeln. Erst dann nämlich, wenn eine Person es versteht, handelnd solche Situationen herzustellen, die als allgemein akzeptabel gelten können, kann davon ausgegangen werden, daß (im Ausgang von solchen Situationen) ein weitergehender, allgemeiner Konsensus bezüglich des Wahrheitsgehalts einer gegebenen Aussage erreichbar ist.

Die inhaltlichen Bestimmungen dieser Regel treten hervor, wenn rekonstruiert wird, was man meint (und was man nicht meint) wenn man eine bestimmte Aussage als wahr behauptet: damit wird nicht reklamiert, daß die Validität der Aussage faktisch von allen Personen übereinstimmend beurteilt wird oder werden kann. Vielmehr wird die Aussage von vornherein nur an intellektuell fähige, wahrheitssuchende, und autonom über ihren Körper als ihr natürliches Erkenntnisinstrument verfügende Personen gerichtet; eine Übereinstimmung auch mit minderbemittelten und/ oder lügenden Personen, und/oder solchen, die nicht selbständig über ihren Körper verfügen, wird dagegen nicht gesucht. Und man erwartet auch nicht, daß alle Personen des genannten Adressatenkreises einer als wahr behaupteten Aussage zustimmen können, sondern man erwartet es nur von denen, die zufällig Zeit für ein Validierungsunternehmen haben. (Umgekehrt: wollte man die Teilnahme auch solcher Personen erzwingen, die mit ihrer Zeit ansonsten etwas besseres anzufangen gewußt hätten, so könnte eine Aussage nicht länger mit einem Wahrheitsanspruch verbunden auftreten.)

Die Regel, der entsprechend handeln zu können, die Voraussetzung für Prozesse der Wahrheitsfindung bildet, und die insofern selbst als konsensfähig gelten muß, lautet demnach: handle so, daß du niemandes autonome Körperkontrolle durch Gewaltanwendung deinerseits einschränkst, sondern vielmehr jedermann jederzeit Herr über den eigenen Körper ist und bleibt, so daß jede Entscheidung zugunsten einer Zusammenarbeit als in zweiseitigem Interesse liegend aufgefaßt werden kann, und jede Entscheidung zuungunsten einer bestimmten Kooperationsform umgekehrt als Zeichen dafür, daß diese Kooperation nicht im zweiseitigen Interesse liegt. Kurz: wende keine Gewalt gegen andere Personen an, denn die Anwesenheit von Gewalt ist nicht allgemein akzeptabel; nur ihre Abwesenheit ist es, und nur bei Abwesenheit von Gewalt kann sich darum Wahrheit einstellen, d. i. Aussagen, die als objektiv zutreffend gewertet werden können (im Unterschied zu bloß subjektiven Meinungen).

Gewalt, deren Abwesenheit Voraussetzung von Wahrheit ist, ist dabei kein objek- [S.99] tiv gegebenes Phänomen mit genau angebbaren physischen Merkmalen, sondern Gewalt muß (ähnlich wie ökonomische Güter nicht durch physische Merkmale, sondern durch ihren Wert für ein handelndes Subjekt definiert werden) als Phänomen begriffen werden, über dessen An- oder Abwesenheit nicht ohne Rückgang auf die subjektiven Bewertungen mindestens zweier Personen entschieden werden kann: Es ist das Phänomen, hinsichtlich dessen es keine übereinstimmende Bewertung als allgemein anerkennungsfähig gibt und geben kann (so sehr auch einzelne Personen, aber doch eben nicht alle (!), wünschen mögen, die Dinge wären anders). Gewalt ist aber trotz des subjektivistischen Charakters des Begriffs auch ein objektives Phänomen. Zwar nicht objektiv in dem Sinn, in dem die Dinge, die subjekt-unabhängig existieren, objektiv genannt werden, aber doch objektiv insofern, als jedermann verstanden haben muß, wie man mit, und wie man ohne Gewaltanwendung handelt, um überhaupt die Idee einer objektiven Welt subjektunabhängiger Fakten (im Unterschied zu bloß subjektiven, idiosynkratischen Vorstellungen) zu verstehen. Man muß die Kenntnis der korrekten Anwendung des Ausdrucks ‚Gewalt’ schon als gegeben voraussetzen, um von irgendeinem anderen, sich auf die objektive Realität beziehenden Ausdruck behaupten zu können, er sei korrekt (intersubjektiv nachprüfbar) angewendet worden.

Handelt man entsprechend dem Gewaltausschlußprinzip (GWAP), dessen Charakter als einer allgemein anerkennungsfähigen Regel kognitiv fundamentaler verankert ist als die allgemeine Geltung empirisch wahrer Aussagen (da seine Anerkennung die Bedingung der Möglichkeit empirischer Wahrheit ist), so spricht man von wirtschaftlichem Handeln. Und ein (stabiles) System ausschließlich wirtschaftlicher Handlungen heißt wirtschaftliche bzw. anarchische (d. i. ‚gewaltfreie’) Ordnung. Demgegenüber werden Handlungen, die vom Mittel der Gewalt Gebrauch machen, als politisch klassifiziert. Und ein (stabiles) Sozialsystem, in dem auch politische Handlungen stattfinden, heißt politische oder staatliche Ordnung. Die Distinktion von ‚politisch’ oder ‚staatlich’ und ‚wirtschaftlich’ oder ‚anarchisch’ ist dabei von noch fundamentalerer Natur als die ebenfalls auf dem Konzept von Gewalt bzw. Gewaltfreiheit beruhende Unterscheidung von Wahrheit bzw. Unwahrheit.[FN3] Sie spielt im Bereich von Handlungen eine äquivalente Rolle, wie die Unterscheidung von falsch und wahr in Bezug auf Aussagen, und muß darum bei der Entwicklung einer aprioristischen Handlungs- und Gesellschaftstheorie den Anfang aller begrifflichen Distinktionen (abgesehen von der noch fundamentaleren von Handlungen und Nicht-Handlungen) bilden.[FN4]

[S.100] Während man von jeder Handlung sagen kann, daß ein Handelnder durch sie seine subjektive Wohlfahrt zu vermehren bemüht ist, wenden wirtschaftliche und politische Handlungen objektiv eindeutig unterscheidbare Mittel, mit ebenso objektiv eindeutig unterscheidbaren Konsequenzen an. Wirtschaftliche Handlungen vermehren, indem sie auf Gewalt verzichten, nicht nur die subjektive Wohlfahrt, sondern führen außerdem zur Realisierung eines Optimums an sozialer Wohlfahrt: Soweit die wirtschaftlichen Handlungen die Gestalt interpersoneller Kooperation annehmen, müssen sie im Interesse aller Austauschpartner liegen, und auch deren subjektive Wohlfahrt zu erhöhen geeignet sein, ansonsten würde es zur Kooperation nicht kommen; und das Maß der aus den wirtschaftlichen Austauschhandlungen resultierenden sozialen Wohlfahrt stellte ein Optimum dar, weil jeder andersartige Austausch Gewalt erforderlich machte und darum nicht mehr im Interesse aller Austauschpartner liegen könnte, sondern stattdessen bedeutete, daß eine Person hier die eigene Wohlfahrt auf Kosten einer anderen erhöhte. – Und auch soweit wirtschaftliche Handlungen als Nicht-Kooperation zu gelten haben, wird ein Optimum sozialer Wohlfahrt realisiert, weil die Nicht-Kooperation nur aufgrund von Gewaltanwendung durch Formen der Kooperation ersetzt werden könnte, solche Kooperation dann aber nicht mehr im allseitigen Interesse läge, sondern in ihrem Rahmen sich vielmehr wiederum nur einer auf Kosten eines anderen bereicherte.[FN5]

Solange Personen sich in ihren Handlungen ausschließlich wirtschaftlicher Mittel bedienen, solange führt, ähnlich wie sich dies A. Smith in seinem berühmten Bild von der unsichtbaren Hand vorgestellt hat, die Verfolgung subjektiver Interessen objektiv, d. i. ohne daß dies in der Absicht des Handelnden liegen müßte, immer auch zur Realisierung des allgemeinen Wohls.[FN6] Diese Koordinierung von Handlungen verdankt sich freilich nicht der gleichsam automatischen Wirksamkeit einer unsichtbaren Hand, sondern sie gelingt (nur), wie die Theorie des individualistischen Anarchismus in Weiterentwicklung des klassischen Liberalismus zeigt [FN7], sofern das Gewaltausschlußprinzip (GWAP) uneingeschränkt gültig ist. Ist dies nicht der Fall (und treten also auch politische Handlungen auf) so geraten subjektives Interesse [S.101]und Gemeinwohl notwendig in Gegensatz zueinander, und es resultiert ein suboptimales Niveau gesellschaftlicher Wohlfahrt. – Während ein ‚Wirtschaftler’, indem er auf Gewalt verzichtet, immer nur in Übereinstimmung mit dem Gemeinwohl befindliche Ziele verfolgen kann und somit durch sein Handeln immer auch zugleich das Gemeinwohl fördert, verfolgt der ‚Politiker’ immer partikulare Werte auf Kosten eines universell anerkennungsfähigen Werts und beeinträchtigt auf diese Weise mit jeder seiner Handlungen das Gemeinwohl.

Diese Aussage ist der abstrakte Kern der sich wechselseitig erläuternden und zu einer Theorie gesellschaftlicher Ordnungen ergänzenden Theorie der Wirtschaft (oder anarchischer Ordnungen) und der Politik (oder staatlicher Ordnungen). Die weitere Ausarbeitung der Theorie besteht darin, die hier formulierte Einsicht der gemeinwohlförderlichen Wirkungen wirtschaftlichen Handelns und der gemeinwohlabträglichen Konsequenzen politischen Handelns auf Fälle, die in ihrer Gestalt der Komplexität der tatsächlichen Welt vergesellschafteter Personen entsprechen, anzuwenden und an ihnen zu konkretisieren.