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3.1.3. Demokratisierung

I.
II.
III.

III.

[S.156] Wo, wie und wann der demokratische Umverteilungsstaat bei seinem Versuch der Einkommensmaximierung aus herrschaftlich-gewalttätigen Aneignungen an Grenzen stößt, ist eine empirische Frage. Für sie läßt sich keine Antwort in kausalwissenschaftlicher Phraseologie geben: infolge der Unvoraussagbarkeit von Interessen- und Wissenswandel kann es logischerweise kein Gesetz geben, mittels dessen die Einkommensentwicklung des Staates auf der Grundlage der Kenntnis der Entwicklung bestimmter Antezedenzvariablen wissenschaftlich prognostiziert werden könnte; vielmehr handelt es sich um eine Frage, die grundsätzlich nur nachträglich, durch rekonstruierende, historische Untersuchungen beantwortet werden kann. Als solche [S.157] liegt sie, so interessant sie ist, außerhalb des Gegenstandsbereichs einer reinen Theorie gesellschaftlicher Ordnungen. Letzterer geht es um die Aufklärung notwendiger (begrifflicher) Zusammenhänge, die sich aus bestimmten aprioristischen handlungs- und erkenntniskonstitutiven Wahrheiten einerseits, und jeweils explizierten empirischen Annahmen, wie z. B. der Annahme vom Widerstandswillen gegen Herrschaft, von partikularistischen Herrschaftsneigungen, usw. ergeben. Auf diese Weise wurde das durch die Stichworte Staat, Gewalt, Umverteilung und Demokratie gekennzeichnete Bild entwickelt: wurde der Staat als ein Unternehmen bestimmt, das ein monetäres und/oder nicht-monetäres Einkommen aus gewalttätigen Aneignungen zu maximieren versucht, indem es Widerstand positiv durch die Verteilung von (unrechtmäßig erworbenen) Vorteilen bricht, und negativ durch die Vergabe von Teilnahmechancen am Prozeß der Herrschaft.

Die reine Theorie liefert das begriffliche Instrumentarium, mittels dessen Staaten empirisch identifiziert und von anderen Unternehmen unterschieden werden können; und sie legt fest, unter Verwendung welcher Begriffe ihr Funktionieren zu beschreiben und erklären ist, wenn es sich um eine korrekte Beschreibung oder Erklärung einer korrekt als Staat identifizierten Organisation handeln soll.[FN86] Jede historische Darstellung konkreter Staaten und ihrer Auseinandersetzung mit ihren Gesellschaften darf selbstverständlich (und wird zwangsläufig) mehr und andere Termini verwenden als die genannten, aber wenn es sich um eine vollständige, und eine nicht ideologischen Täuschungen erliegende Darstellung eines Stücks Staatsgeschichte handeln soll, so müssen die einzelnen staatlichen Aktionen und Maßnahmen, die es zu beschreiben oder erklären gilt, als Ausdrucksformen von Gewaltanwendung und drohung, von ihrerseits notwendig Gewalt voraussetzender Umverteilung, oder von organisationsinternen Strategien der Verarbeitung anderer als des eigenen (staatlichen), auf Beherrschung gerichteter Willen aufgefaßt und eingeordnet werden.

Was immer ein konkreter Staat an positiven Leistungen für die gesellschaftliche Bedürfnisbefriedigung erbringt, und wie groß oder klein der Umfang dieser Leistungen immer sein mag: egal, ob der Staat Mutterschafts
oder Krankengeld zahlt; ob er sich um Straßenbau oder Flughäfen kümmert; ob ihm der Bauer oder Student besonders am Herzen liegt; ob er sich der Produktion von Bildung oder Infrastruktur, von Geld oder Stahl oder Frieden verschrieben hat; oder auch, ob er alles zusammen und noch mehr tut – es wäre falsch, es mit einer derartigen Beschreibung staatlichen Handelns bewenden zu lassen (wie detailliert diese Beschreibung auch immer sein mag); in seiner Funktion als Anbieter positiver Güter ist der Staat immer gewalttätiger Umverteiler: ohne vorangehende unrechtmäßige Eigentumsaneignung könnte er seine Wohltaten weder durchführen noch fortsetzen; was er tut, ist, auch wenn es für den Produktabnehmer kostenlos ist, kein normales Geschenk, weil etwas verschenkt wird, was einem nicht gehört; und es ist auch nicht normale Aus- [S.158] tauschgüterproduktion; denn auch, wenn der Staat seine Produkte zu kostendeckenden Preisen verkauft, so ist doch sein Eigentumstitel an den eingesetzten Produktionsmitteln auf unrechtmäßige Weise erworben worden, und hat Opfer in Gestalt zwangsweise enteigneter Produktionsmittelbesitzer zurückgelassen; und verkauft er sie, was die Regel ist, zu subventionierten Preisen, so müssen darüber hinaus sogar zur Unterhaltung der laufenden Produktion dauernd neue steuerzahlende Opfer erzeugt werden.

Wie immer auch ein konkreter Staat seine Unternehmensverfassung gestaltet: ob autokratisch oder demokratisch, ob mit zentralisierter oder dezentralisierter Entscheidungsstruktur, ob mit ein- oder mehrstufigen Willensbildungsformen, ob als Parteien- oder Korporationenstaat – es wäre falsch, es bei der Darstellung dieser zweifellos wichtigen Tatsachen zu belassen, ohne klargestellt zu haben, daß jede Verfassung eines Staates dem Zweck dient, Privatrechtssubjekte zu beherrschen, indem sie dem Unternehmen Staat das Recht gibt, Personen, die sich strikt im Rahmen des GWAP und der darauf aufbauenden Eigentumsregelungen bewegen, und die durch ihre Handlungen niemandes Eigentum in der physischen Integrität verändern, zum einseitigen Vorteil des Staates mit Aggression zu überziehen. Eine Staatsverfassung ist zunächst und vor allem ein Instrument zur Durchführung nicht allgemein rechtfertigbarer Handlungen; und sofern die Stabilität eines gegebenen Staates auf der verfassungsmäßigen Garantie von Beteiligungsrechten beruht, beruht sie auf einem institutionalisierten Appell an motivationale Energien, die man im Privatrechtsverkehr als kriminell bezeichnen und entsprechend zu unterdrücken bestrebt wäre; mit normalen Unternehmen und einer dem Zweck normaler Unternehmen (d. i. der Maximierung von Einkommen durch normale Produktion und normalen Handel) angepaßten Organisationsverfassung haben ein Staat und seine Verfassung nichts zu tun; nur zum Kern der Sache nicht vordringende organisationssoziologische Untersuchungen können hier Ähnlichkeiten oder Unterschiede herausstellen wollen, ohne zu bemerken, daß die Verfassungen beidemal kategorisch unterschiedlichen Zwecken, rechtfertigbaren auf der einen Seite, und unrechtfertigbaren auf der anderen dienen.[FN87]

Wie groß oder klein schließlich auch das Einkommen eines gegebenen Staates ist, wie hoch immer das monetäre Einkommen sein mag, das den Repräsentanten des Staates zufließt und von ihnen verwaltet wird, und wie hoch auch immer die von ihnen kontrollierten Vermögenswerte sein mögen – es wäre falsch angesichts von Größen- und Gradunterschieden zu übersehen, daß selbst der kleinste Staat, daß auch ein schrumpfender Staat, solange und in dem Ausmaß, in dem er als Staat Bestand hat, Gewalttäter ist; daß, solange und in genau dem Umfang, in dem er weiter besteht, Personen vorhanden sein müssen, die, obwohl sie von niemandem dazu gezwungen werden und die jederzeit zugunsten der Rolle eines normalen Privatrechtssubjekts abdanken können, dies tatsächlich nicht tun, sondern unrechtfertigbare aggressive Impulse handelnd zur Geltung bringen zu müssen glauben.

[S.159] Es ist genaugenommen erst diese Tatsache, daß staatliches Handeln immer und notwendigerweise Gewalttätigkeit impliziert, die erklärbar werden läßt, warum man sich in der sozial- und politikwissenschaftlichen Literatur (i. w. S.) traditionell soviel Gedanken im Zusammenhang mit Politik, Verfassung und Größe zumal des Staates gemacht hat. Normale Unternehmungen jedenfalls finden dort keine annähernd vergleichbare Beachtung. Warum sollte man sich z. B. mit der Produkt- und Geschäftspolitik von Unternehmen beschäftigen, die (solange sie nicht kriminell werden) nichts Aufregenderes tun, als Produktangebote zu unterbreiten, die jedermann annehmen oder ablehnen kann, und die Menschheit abgesehen davon in Ruhe zu lassen?! Interessanter als Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (die übrigens, sofern man sie für erzählenswert hält, meist bezeichnenderweise auch nicht das normale Funktionieren des Prozesses gesellschaftlicher Güterproduktion beschreibt, sondern dessen von politischen Eingriffen ausgehende Disruptionen!) ist es dagegen, die Politik eines Unternehmens zu thematisieren, das Ungewöhnliches vollbringt, weil es Transaktionen unabhängig davon durchführt, ob Personen ein Angebot annehmen wollen oder nicht: offenbar kann einem eine solche Unternehmenspolitik weniger gleichgültig sein, weil sie einen berührt, ob man es will oder nicht.[FN88]

Und ähnlich: Warum sollte man sich um die Verfassung eines Unternehmens kümmern, mit dem man jede Berührung vermeiden kann, wenn man seine Produkte nicht kauft; und mit dem sich eine Berührung, wenn sie stattfindet, allein auf den Austausch solcher Produkte beschränkt, die man den jeweiligen Austausch für wert befindet? Details bezüglich der Organisationsverfassung sind, wo es das freiwillig gekaufte Produkt ist, das eine Unternehmung am Leben erhält, belanglos oder von nur untergeordneter Bedeutung. Interessant wird eine Verfassung erst in dem Augenblick, in dem ein Unternehmen sich nicht mehr durch Verweis auf freiwillig gekaufte Produkte legitimieren kann. Erst wenn nicht mehr das Produkt für sich selbst spricht, gewinnt die Frage für den (zwangsverpflichteten) Konsumenten an Bedeutung, wie der über die zukünftige Produktionspolitik solcher Unternehmungen entscheidende Willensbildungsprozeß organisiert ist, und wie man auf ihn Einfluß nehmen kann (wenn es einem schon nicht erlaubt ist, freiwilliger Käufer der Dinge zu sein, um deren Herstellung es geht).

Und auch die Unternehmensgröße wird aus demselben Grund erst zum Problem: Daß man sich immer wieder mit der Humboldtschen Frage danach, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates [FN89] zu bestimmen, beschäftigt, aber kaum mit der Frage, wo die Grenzen des Wachstums normaler Unternehmen des Privatrechts liegen, hat seinen guten Grund darin, daß jedermann bei einem normalen Unternehmen jederzeit, wie groß es auch sei, selbst bestimmen kann, wann, wie häufig, und unter welchen Umständen er zu ihm in Kontakt treten will, und wann er von ihm [S.160] in Ruhe gelassen werden möchte (warum sollte einen da die Größe stören?), während ein Staat umgekehrt einseitig, unabhängig von unserer Zustimmung, entscheidet, wann, und wie wir zu ihm in Kontakt zu treten haben: man kann kaum umhin, sich für die Größe eines derartigen Unternehmens zu interessieren, denn immerhin bedeutet sein Wachstum nicht mehr und nicht weniger als Zunahme an unaufgeforderter Belästigung und unrechtmäßiger Enteignung.

Gerade weil jeder, auch der kleinste Staat qua Staat Gewalttäter ist, wird nicht nur einer mit einem anderen vergleichbar; darum erst wird auch die Bestimmung seiner Größe, seines Einkommensniveaus, von einer bloß möglichen zu einer vordringlichen Aufgabe. Gerade weil die Repräsentanten eines jeden Staates gewalttätig handeln (ungeachtet der Tatsache, daß sie selbst dies natürlich nur ungern wahrhaben wollen); weil sie allesamt in ihrer offiziellen Funktion Aggressoren sind, die Personen, die sich keine Verletzung fremder Eigentumsrechte haben zuschulden kommen lassen, und die in Ruhe gelassen werden wollen, ungefragt belästigen; weil die Politiker westlicher Demokratien (entgegen dem Eindruck, den sie zu erwecken versuchen) und kommunistischer Parteiherrschaften in ihrem Handeln keineswegs grundsätzlich unterschiedlichen Prinzipien (etwa: Freiheit hier, Diktatur dort, o. ä.) verpflichtet sind, sondern gleichermaßen gegen den Grundsatz verstoßen, Eigentumstitel nur auf dem Weg über ursprüngliche Appropriation oder zweiseitig freiwilligen Vertrag zu erwerben;[FN90] nur deshalb, weil dem Einkommen des Staates ein erzwungener Einkommensverlust bei Privatrechtssubjekten korrespondiert, ist die Bestimmung der Größe staatlichen Einkommens, d. i. des Grades staatlicher Herrschaft, mehr als nur ein Meßproblem, mehr als die nur theoretische und technische Aufgabe einer Staatsvergleichung: es ist zugleich ein existentielles Problem. Denn anders als die Größenbestimmung bei einem normalen Unternehmen (wo zwischen Größe und Ausbeutung kein konzeptueller Zusammenhang besteht), ist die Größenbestimmung und -vergleichung eines Staates gleichzeitig Bestimmung des relativen Ausbeutungsgrades, den gegebene Personen qua Privatrechtssubjekte von Seiten ihrer Staaten zu ertragen haben; und der Vergleich legt fest, wo und in welcher Hinsicht eine Person, die es vorzieht, frei von Herrschaft zu sein, anstatt von ihr und ihrer Ausübung auf Kosten anderer zu profitieren, besser leben kann (könnte), u. u..

Derjenige Staat ist, wie die vorangehenden Ausführungen insgesamt deutlich gemacht haben, ceteris paribus größer, und dort lebt es sich ceteris paribus für Personen angegebener Art schlechter, in dem das absolute staatliche Steueraufkommen (und bei gleichem absoluten das, am Volkseinkommen gemessen, relative) höher ist: umso mehr Geld würde im Fall einer Auflösung des Staates an rechtmäßige Eigner zurückfallen, und auf ein umso größeres monetäres Einkommen müssen Personen in ihrer Rolle als Privatrechtssubjekte im Falle seines Weiterbestehens verzichten. Und derjenige Staat ist, wie gleichfalls wiederholt gezeigt, ceteris paribus (d. i. bei gleich hohem Steueraufkommen) größer, und macht das Leben von Personen, die sich als Privatrechtssubjekte an universalistischen Normen orientieren, umso [S.161]schwerer, in dem mehr, oder hinsichtlich ihrer inhaltlichen Bestimmungen weitergehende partikularistische (d. i. im Widerspruch zum GWAP und den darauf aufbauenden Eigentumsnormen stehende) Normen durchgesetzt werden: umso größer ist nämlich das nicht-monetäre Einkommen, auf das Personen als rechtmäßige Eigner irgendwelcher nicht-monetären Güter verzichten müssen, weil der Staat diese Güter gewalttätig vollständig oder teilweise ihrer Kontrolle entzogen und sich selbst zum Eigentümer aufgeschwungen hat; und umso stärker würde das private Gütervermögen im Fall einer Staatsauflösung anwachsen.