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Soziologie und Geschichte (1929)

V. Geschichte ohne Soziologie
VI. Allgemeine Geschichte und Soziologie
VII. Soziologische Gesetze und historische Gesetze
VIII. Qualitative und quantitative Analyse in der Nationalökonomie
IX. Die Allgemeingültigkeit soziologischer Erkenntnis

VII. Soziologische Gesetze und historische Gesetze

Die Methode wissenschaftlicher Arbeit, die ceteris paribus die Wirkung der Veränderung eines Faktors untersucht, nennen wir die statische Methode.(74) Nahezu alles, was die Soziologie und ihr am besten ausgebauter Teil, die nationalökonomische Theorie, bisher geleistet haben, ist der Anwendung der statischen Methode zu danken. Die Annahme vollkommener Unveränderlichkeit aller übrigen Bedingungen, die wir hier machen, ist eine für das Denken und die Wissenschaft unentbehrliche Fiktion. Im Leben ist alles stets im Flusse, doch für das Denken müssen wir einen imaginären Zustand der Ruhe konstruieren.(75) Wir isolieren im Denken auf diese Weise die einzelnen Faktoren, um die Wirkung ihrer Veränderung studieren zu können. Das Wort »Statik« darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich um eine Methode handelt, deren Ziel gerade die Untersuchung der Veränderung ist.(76)

Es ist bei dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft noch nicht möglich, festzustellen, ob innerhalb des Systemes der Katallaktik dynamische Gesetze möglich sind. Ein dynamisches Gesetz müßte (499) aufzeigen können, wie aus den im statischen System wirkenden Kräften heraus Veränderungen auch dann eintreten müßten, wenn keine Veränderung der Daten von außen her erfolgt. Es ist bekannt, daß Ricardo und manche Epigonen der klassischen Schule, z. B. auch Marx, solche Versuche unternommen haben, und daß auch auf dem Boden der modernen Wissenschaft sich ähnliche Bestrebungen geltend machen. Wir können es uns ersparen, an dieser Stelle darauf näher einzugehen. Auch die Frage, ob außerhalb des engeren Rahmens der nationalökonomischen Theorie Gesetze soziologischer Dynamik aufgezeigt werden könnten, hat uns hier nicht zu beschäftigen. Wir müssen nur an dem Begriff des dynamischen Gesetzes festhalten, um ihn dem Begriff des historischen Gesetzes gegenüberzustellen.

Man hat es immer wieder als die Aufgabe der Geschichtswissenschaft bezeichnet, geschichtliche Gesetze, d. s. Gesetze des geschichtlichen Ablaufs aufzustellen. Manche sind auch darangegangen, solche Gesetze aufzustellen. Freilich, den Anforderungen, die man an ein wissenschaftliches Gesetz zu stellen hat, haben diese Gesetze nicht entsprochen. Es fehlt ihnen die Allgemeingültigkeit.

Bei allen diesen »Gesetzen«, wie z. B. bei den Breysigschen Gesetzen, von denen wir oben ein Beispiel gegeben haben,(77) liegt die Wurzel dieses Mangels darin, daß zum Aufbau des Gesetzes idealtypische Begriffe und Konstruktionen Verwendung gefunden haben. Da nun schon diesen die Allgemeingültigkeit fehlt, muß sie auch den auf ihnen aufgebauten Sätzen fehlen. Alle in dem zitierten einunddreißigsten der Breysigschen Gesetze vorkommenden Begriffe sind idealtypisch aufzufassen; nicht nur »Kaiserherrschaft«, »Volksherrschaft«, »Aufschwung im Handel und Gewerbe« sind so zu verstehen, sondern auch »Volkswirtschaft« in dem Sinne, in dem dieser Ausdruck von Breysig verwendet wird.

Eine besondere Stellung nehmen die Stufengesetze ein. Es werden eine Reihe von Stufen geschichtlicher Entwicklung idealtypisch charakterisiert, und dann wird die Behauptung aufgestellt, daß die Geschichte in dem Fortschreiten von einer Stufe zur nächsten und dann weiter fort zur dritten usw. bestehe. Es ist klar, daß dies noch nicht die Aufweisung einer Gesetzlichkeit bedeutet, solange nicht die Notwendigkeit dieses Fortschreitens behauptet werden kann.(78) Wird aber diese Notwendigkeit behauptet, dann wäre dieser Ausspruch, nicht aber die idealtypische Konstruktion der Stufen, als Gesetz anzusehen, doch auch nur dann, wenn er inhaltlich von jeder Beziehung auf Idealtypen frei wäre.

Dieser Forderung wollen die Fortschrittsgesetze genügen. Sie stellen eine oder mehrere Kräfte fest, deren dauernder Einwirkung sie die Richtung, in der sich die gesellschaftlichen Veränderungen vollziehen, eindeutig zuordnen; ob diese Entwicklung zum Guten oder zum Bösen führt, ob sie Aufschwung oder Niedergang bedeutet, ist (500) dabei unwesentlich; Fortschritt heißt hier: Fortschreiten auf dem notwendigen Wege. Nun ist es wohl richtig, daß alle bisher aufgestellten Fortschrittsgesetze, soweit sie nicht schon von vornherein als der Wirklichkeit in keiner Weise entsprechende Erdichtungen zurückzuweisen sind, durch Verbindung mit idealtypischen Begriffen den strengen Gesetzescharakter verlieren. Es müßte aber doch unschwer gelingen, das ihnen zugrunde liegende soziologische Gesetz rein herauszuschälen und auf seinen Gehalt zu prüfen. Würden wir dann auch dem historischen Gesetz den Gesetzescharakter absprechen, so würden wir doch in ihm ein Gesetz soziologischer Dynamik vorfinden.

Ein soziologischer Satz, dessen Allgemeingültigkeit anerkannt ist, ist der von der höheren Produktivität arbeitsteilig verrichteter Arbeit: daß arbeitsteilig verrichtete Arbeit mehr hervorbringt als ohne Arbeitsteilung verrichtete. Mit der Aufstellung dieses Satzes und dem Erfassen seiner Bedeutung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beginnt die Geschichte der Gesellschaftswissenschaft. Man hat nicht mit Unrecht bemerkt, der Umstand, dem wir die Entstehung und Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und mithin der Kultur verdanken, sei die Tatsache, daß geteilte Arbeit produktiver ist als isoliert verrichtete. An dem Tatbestande dieses Gesetzes konnte auch der Historismus nicht ganz vorbeigehen. Die Art, wie er ihn für seine Zwecke verwendet hat, eignet sich ganz besonders dazu, den Unterschied aufzuweisen, der zwischen den geschichtlichen »Gesetzen« und den soziologischen Gesetzen besteht.

Büchers Stufentheorie will »die gesamte wirtschaftliche Entwickelung, wenigstens für die zentral- und westeuropäischen Völker, wo sie sich mit hinreichender Genauigkeit historisch verfolgen läßt« unter einem »Gesichtspunkt, der mitten hineinführt in die wesentlichen Erscheinungen der Volkswirtschaft«, begreifen, und findet diesen Gesichtspunkt in dem Verhältnis, in welchem die Produktion der Güter zur Konsumtion derselben steht, erkennbar an der Länge des Weges, welchen die Güter vom Produzenten bis zum Konsumenten zurücklegen«. Daraus ergebe sich die Einteilung in die drei Stufen der geschlossenen Hauswirtschaft, der Stadtwirtschaft und der Volkswirtschaft.(79)

Davon, daß die Charakterisierung jeder einzelnen der drei Stufen nur idealtypisch erfolgt und erfolgen kann, soll nicht mehr gesprochen werden; das ist eben ein im Wesen aller dieser historischen »Gesetze« begründeter Mangel. Nur darauf sei besonders hingewiesen, daß die Freiheit, die die Denkform der idealtypischen Konstruktion bietet, es Bücher ermöglicht, den naheliegenden, ihm aber offenbar aus politischen Gründen unsympathischen Gedanken zurückzuweisen, daß »die Menscheit eine neue Stufe der Entwicklung zu erklimmen im (501) Begriffe steht, die unter dem Namen der Weltwirtschaft den drei früheren Stufen gegenübergestellt werden müßte«.(80) Es kann aber nicht unsere Aufgabe sein, die kleineren Schwächen und Fehler in Büchers Schematisierung aufzuzeigen; uns handelt es sich hier ausschließlich um die logische Gestalt und nicht um den konkreten Gehalt der Lehre. Alles, was Bücher festzustellen vermag, ist, daß drei Stadien im bisherigen Verlaufe der geschichtlichen Entwicklung zu unterscheiden wären; über die causa movens der vollzogenen Veränderungen und über die künftige Entwicklung kann er keine Auskunft geben. Es ist nicht einzusehen, wie Bücher aus seiner Theorie heraus dazu gelangen konnte, jede folgende Stufe der vorangegangenen gegenüber als die »nächsthöhere« zu bezeichnen, und wie er dazu kommt, ohne weiteres anzunehmen, daß »der Uebergang von der Volkswirtschaft zur nächsthöheren Stufe … kommen wird«, wobei er ausdrücklich hinzufügt, daß man nicht wissen könne, wie »die wirtschaftliche Zukunft im einzelnen aussehen wird«.(81) Der metaphorische Gebrauch des Ausdrucks »Stufen« hätte ihn nicht dazu verleiten dürfen, statt »folgende« Stufe »höhere» Stufe zu sagen, und nichts kann ihn, aus seiner Theorie heraus, berechtigen, etwas darüber auszusagen, daß überhaupt noch eine weitere Veränderung eintreten werde und daß eine solche nicht etwa auch in einem Zurückgehen auf eine der verlassenen früheren Stufen bestehen könnte. Man kann mithin unmöglich in einer Stufentheorie dieser Art ein »Gesetz« erblicken; Bücher vermeidet auch mit Recht diese Bezeichnung.(82) Eine Frage, die aber jedenfalls viel wichtiger ist als die, ob man es hier mit einem »Gesetz« zu tun hat oder nicht, ist die, ob die Aufstellung solcher Schemata für die Erweiterung und Vertiefung unserer Erkenntnis der Wirklichkeit ersprießlich ist.

Wir müssen diese Frage mit Nein beantworten. Der Versuch, die wirtschaftsgeschichtliche Entwicklung in ein knappes Schema hineinzupressen, ist nämlich nicht nur, wie aus den vorstehenden Bemerkungen hervorgeht, für unsere Erkenntnis wertlos, er wirkt geradezu schädlich. Er hat Bücher dazu geführt, jene Verkürzung des Weges, den die Güter vom Produzenten bis zum Konsumenten zurücklegen, die sich im spätrömischen Reiche durch Rückbildung der Arbeitsteilung vollzogen hat, nicht zu sehen. Der Streit darüber, ob man die Wirtschaft der Alten einfach als geschlossene Hauswirtschaft aufzufassen habe oder nicht, mag uns müßig erscheinen, wenn wir Büchers wie jede ähnliche Schematisierung ablehnen. Doch den Umstand, daß die Antike in der Arbeitsteilung, mithin, um Büchers Ausdruck zu gebrauchen, in »der Länge des Weges, welchen die Güter vom Produzenten bis zum Konsumenten zurücklegen«, weiter gegangen war als die ersten Jahrhunderte des Mittelalters, darf man nicht verkennen, wenn (502) man sich nicht die Möglichkeit verschließen will, eine der größten geschichtlichen Veränderungen, den Untergang der antiken Zivilisation, zu verstehen. Das soziologische Gesetz von der höheren Ergiebigkeit arbeitsteilig verrichteter Arbeit stellt uns das unentbehrliche Mittel zur geistigen Erfassung dieses Geschehens und zum Aufbau der für diese Erfassung erforderlichen Idealtypen zur Verfügung. Als solche dem Gegenstand angemessene Idealtypen mögen sich gerade die Begriffsgebilde der geschlossenen Hauswirtschaft (reine Eigenproduktion, tauschlose Wirtschaft), Stadtwirtschaft (Kundenproduktion) und Volkswirtschaft (Warenproduktion) bewähren. Der entscheidende und verhängnisvolle Fehler liegt nicht in ihrer Aufstellung, sondern in ihrer Verknüpfung zu einem Stufenschema und in der Unmöglichkeit, dieses auf dem Gesetz der Arbeitsteilung zu fundieren.

Denn mit gutem Grunde hat Bücher darauf verzichtet, seine Stufentheorie an dem Satze von der höheren Ergiebigkeit arbeitsteilig verrichteter Arbeit zu verankern. Das Arbeitsteilungsgesetz gibt nämlich nur eine Aussage über den objektiven Erfolg, der durch Arbeitsteilung erzielt werden kann, nicht aber etwa die Aussage, daß darum immerfort die Tendenz zur weiteren Ausgestaltung der Arbeitsteilung wirksam ist. Es ist ein statisches Gesetz. Wann immer und wo immer ein Wirtschaftssubjekt vor die Entscheidung gestellt ist, zwischen einem Verfahren mit weitergehender Arbeitsteilung und einem solchen mit weniger weitgehender Arbeitsteilung zu wählen, wird es den ersten Weg gehen, vorausgesetzt, daß es den größeren objektiven Ertrag, den es hiermit erzielen kann, auch erkannt hat und diesen Ertragsunterschied höher wertet als die etwa mit dem Uebergange zur stärkeren Arbeitsteilung verknüpften sonstigen Folgen. Ob aber und in welchem Umfang diese Erkenntnis und diese Bewertung tatsächlich gegeben sind, darüber kann das Gesetz als solches nichts aussagen. Es kann uns daher lehren, eine tatsächlich eingetretene Veränderung – wohlgemerkt, sowohl eine solche in der Richtung stärkerer Ausbildung der Arbeitsteilung als auch eine solche in der Richtung zu weniger weitgehender Arbeitsteilung – zu verstehen und kausal zu erklären, es kann uns aber nicht zeigen, daß und warum die Arbeitsteilung immer stärker ausgebildet werden muß. Zu diesem Schluß können wir nur auf Grund einer historisch – d. h. mit den begrifflichen Mitteln der Geschichte – durchführbaren Beurteilung dessen gelangen, was Völker, Gruppen und Individuen unter der Einwirkung der ihr Sein determinierenden Faktoren – angeborene Qualitäten (rassisches Erbgut), natürliche, soziale und geistige Umwelt – wollen. Da wir aber nicht wissen, wie sich im Innern des Menschen diese äußeren Faktoren in Wollen umsetzen, um dann als Verhalten wieder nach außen wirksam zu werden, da wir dies nur ex post festzustellen, keineswegs aber aus erkannter Gesetzlichkeit im voraus abzuleiten vermögen, können wir aus dem Arbeitsteilungsgesetz noch nicht darauf schließen, daß die Arbeitsteilung immer weitere Fortschritte machen muß. Es kann sein, daß die Arbeitsteilung sich vorübergehend oder auch dauernd wieder rückbildet; es kann sein, daß eine Ideologie die Herr- (503) schaft erlangt, die in der Rückkehr zur Autarkie das soziale Ideal erblickt. Man mag es für recht unwahrscheinlich halten, doch eine eindeutige bestimmte Aussage kann man aus den dargelegten Gründen darüber nicht machen. Jedenfalls darf man nicht außer acht lassen, daß in der äußeren Wirtschaftspolitik der Staaten heute eine die internationale Arbeitsteilung bekämpfende Ideologie mächtig zur Geltung kommt.

Man muß die Sätze der Soziologie in zwei Gruppen teilen. Die eine Gruppe bringt Aussagen, die von dem wirtschaftlichen Prinzip, das a priori aller Erkenntnis des menschlichen Handelns ist, abhängig sind. Sie sind Sätze über das Handeln selbst. Die zweite Gruppe sind Sätze über den Erfolg des Handelns: z. B. das Ertragsgesetz,(83) das auf ihm aufgebaute Bevölkerungsgesetz,(84) das Arbeitsteilungsgesetz. Die Gesetze beider Gruppen sind allgemeingültig, d. h. es ist kein Handeln denkbar, das nicht unter ihrer Herrschaft stehen würde; sie sind, was nochmals hervorgehoben werden soll, statische Gesetze. Wer auf ihnen ein exaktes – also von idealtypischen Begriffsbildungen freies – Fortschrittsgesetz aufbauen will, sucht das statische Gesetz durch Erschleichung in ein dynamisches zu verwandeln. Da waren die Optimisten unter den liberalen fortschrittszuversichtlichen Soziologen der Aufklärung, denen man doch immer »mangelnden historischen Sinn« vorgeworfen hat, logisch bei weitem korrekter; sie haben nie bestritten, daß sie ihren festen Glauben auf stetigen gesellschaftlichen Fortschritt nicht auf »Gesetze«, sondern auf die Annahme stützten, daß das »Gute« und »Vernünftige« schließlich siegen müsse.

Dieselben Mängel lassen sich an jedem Versuch einer Stufentheorie aufweisen. Eine soziologische Erkenntnis, von der ein gutes Stück schon vor den Anfängen einer selbständigen Gesellschaftswissenschaft den Historikern eigen war, zeigt uns, welche Bedeutung dem Standort für die Ergiebigkeit der Produktion zukommt; da sich die Bedingungen, die die Standorte als mehr oder weniger günstig erscheinen lassen, verändern, gewinnt man ein Mittel, die Standortsverschiebungen und die Wanderbewegungen historisch zu erklären. Die geographischen Stufentheorien sind dagegen, ganz abgesehen davon, daß sie das Standortsgesetz in rohester und unzulänglichster Weise bringen, ja es geradezu verballhornen, nur geeignet, den Zugang zum Verständnis dieser Probleme zu erschweren. Hegel meinte: »Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen; denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang. Für die Weltgeschichte ist ein Osten kat‘ exochen vorhanden, während der Osten an sich etwas ganz Rela- (504) tives ist; denn obgleich die Erde eine Kugel bildet, so macht die Geschichte doch keinen Kreis um sie herum, sondern sie hat vielmehr einen bestimmten Osten, und das ist Asien. Hier geht die äußerliche physische Sonne auf, und im Westen geht sie unter: dafür steigt aber hier die innere Sonne des Selbstbewußtseins auf, die einen höheren Glanz verbreitet«.(85) Nach Mougeolle gibt es ein »Gesetz der Höhen«, daß nämlich im Laufe der Geschichte die Stadt immer mehr vom Berge in die Ebene herabgerückt ist, und ein »Gesetz der Breiten«, daß die Zivilisation immer von den Tropen nach den Polen gegangen ist.(86) Auch in diesen »Gesetzen« finden wir alle Mängel, die jeder Stufentheorie anhaften; die causa movens der Veränderungen wird nicht aufgewiesen, und die Präzision der geographischen Begriffe, die sie enthalten, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie im übrigen auf idealtypischen Begriffsbildungen aufgebaut sind, und zwar auf solchen so unbestimmter und darum unbrauchbarer Art wie »Weltgeschichte« und »Zivilisation«. Noch viel schwerer aber fällt ins Gewicht, daß sie ohne weiteres den Sprung von der Feststellung des Standortsgesetzes zu einem durch ihn ausgelösten eindeutigen Wollen machen.

Becher begründet seine Meinung, prinzipiell könne die Möglichkeit historischer Gesetze nicht bestritten werden, folgendermaßen: »Man hat historische Gesetze nicht als solche anerkennen wollen, weil sie sekundärer, reduzierbarer, nicht fundamentaler Natur sind. Diese Ablehnung stützt sich auf einen unzweckmäßig eng gefaßten Begriff des Gesetzes, der uns bei konsequenter Anwendung auf die Naturwissenschaften zwingen würde, vielen Zusammenhängen, die jedermann als Naturgesetze bezeichnet, diesen Titel zu versagen. Denn die meisten naturwissenschaftlichen Gesetze, z. B. die Keplerschen Gesetze, die Gesetze der Wellenlehre über Resonanz, Interferenz usw., die geometrisch-optischen Gesetze der Hohlspiegel- und Linsenwirkung, sind von sekundärer, nicht fundamentaler Art, sind auf fundamentalere Gesetze zurückzuführen. So wenig alle Naturgesetze letzte, unreduzierbare oder Fundamentalgesetze sind, so wenig sind sie allsamt Elementargesetze, d. h. Gesetze für elementare, nicht komplexe Erscheinungen … Wenn aber zahlreichen weder fundamentalen noch elementaren naturwissenschaftlichen ‚Gesetzen‘ diese Bezeichnung ganz allgemein zuerkannt wird, dann geht es nicht an, historischen Gesetzen diesen Namen streitig zu machen, weil sie nicht von fundamentaler und elementarer Art sind«.(87) Diese Argumentation trifft m. E. nicht den Kern der Sache. Nicht darum handelt es sich, ob man die Bezeichnung Gesetz nur auf Fundamental- oder allein auf Elementargesetze anwenden soll; das ist schließlich eine gleichgültige terminologische Frage. An und für sich wäre es nicht undenkbar, wenn auch im höchsten Maße unzweckmäßig und aller Denkökonomie hohn- (505) sprechend, die akustischen Gesetze derart zu formulieren, daß sie von Konzerten und nicht von Schallwellen aussagen. Wohl aber wäre es nicht denkbar, in diese Gesetze, wenn sie den Charakter naturwissenschaftlicher Gesetze bewahren sollen, Aussagen über die Beschaffenheit und den Ausdruck des Spiels des Konzertgebers aufzunehmen; sie müßten sich auf das beschränken, was mit den Mitteln physikalischer Gesetze ausgesprochen werden kann. Nicht weil die historischen Erscheinungen kompliziert und zahlreiche, voneinander unabhängige Faktoren und Bedingungen an ihnen beteiligt sind, können wir ihren Gesamtverlauf nicht in Gesetze fassen, sondern weil an ihnen auch Faktoren beteiligt sind, deren Mitwirkung wir nicht exakt zu bestimmen vermögen. Soweit die Bestimmbarkeit grundsätzlich möglich ist, reicht die soziologische Begriffsbildung; jenseits dieser Grenzen liegt das Gebiet der Geschichte, die den von der Soziologie gegebenen Rahmen in idealtypischer Begriffsbildung mit den Gegebenheiten des geschichtlichen Lebens erfüllt.

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(74) Die Unterscheidung von Statik und Dynamik, wie ich sie vornehme, weicht von der Unterscheidung, die Amonn vornimmt, ab; auf diese Verschiedenheit kann hier nicht näher eingegangen werden. Wohl aber muß ich nachdrücklich auf das verweisen, was Amonn über die ganz andere Bedeutung, die dem Begriffspaar in der Mechanik und in der Nationalökonomie zukommt, ausführt. Es handelt sich bei den Begriffen Statik und Dynamik keineswegs um die Anwendung einer mechanischen Analogie, sondern um die Ausbildung einer dem Wesen der nationalökonomischen Wissenschaft entsprechenden Denkform, für die nur die Bezeichnung der Mechanik entlehnt wurde. Vgl. Amonn, Grundzüge der Volkswohlstandslehre, 1. Teil, Jena 1926, S. 275 ff.

(75) Vgl. Clark, Essentials of Economic Theory, New York 1907, S. 130 ff.

(76) Es ist ein arges Mißverstehen, wenn man, wie z. B. Flügge (»Institutionalismus in der Nationalökonomie der Vereinigten Staaten« in den Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik, N. F., 71. Bd., S. 339) glaubt, die Konstruktion eines statischen Zustandes wäre nicht geeignet, zum Verständnisse der volkswirtschaftlichen Veränderungen zu führen.

(77) Vgl. oben S. 470.

(78) Vgl. Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie, 4.Auflage, München und Leipzig 1922, S. 107 f.

(79) Vgl. Bücher, Die Entstehung der Volkswirtschaft, Erste Sammlung, 10. Auflage, Tübingen 1917, S, 93. – Büchers Stufentheorie wird hier als repräsentativ für eine ganze Klasse solcher Theorien genommen, zu denen z. B. auch die Schmollers zählt. Der Prioritätsstreit, der sich an Büchers Lehre knüpfte, ist für uns gegenstandslos.

(80) Ebendort S. 149.

(81) Ebendort S. 150.

(82) Dagegen ist Becher (Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften, München und Leipzig 1924 S. 139, 171 f.) geneigt, in diesen Stufentheorien »allgemeine Gesetze oder, wenn man vorsichtiger sprechen will, Regeln der wirtschaftsgeschichtlichen Entwicklung« zu erblicken.

(83) Vgl. F. X. Weiß, Artikel »Abnehmender Ertrage im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, IV. Auflage, 1. Bd., S. 11 ff.

(84) Vgl. über den Begriff der absoluten Uebervölkerung Wicksell, Vorlesungen über Nationalökonomie auf Grund des Marginalprinzipes, Jena 1913, I. Bd., S. 50; über den Begriff der relativen Uebervölkerung Mises , Nation, Staat und Wirtschaft, Wien 1919, S. 47; über die Entwicklung der Lehre Robbins, The Optimum Theory of Population (London Essays in Economics: in Honour of Edwin Cannan, London 1927, S. 103-134).

(85) Vgl. Hegel a. a. O., S. 232 f.

(86) Vgl. Mougeolle, Les Problèmes de l’Histoire, Paris (1886), S. 98 ff., 121 ff

(87) Vgl. Becher a. a. O., S. 175.