Vierzehnter Brief.
71 Sie sagen, dass ich über meines Gegners mangelhafte Orientirung in den von ihm behandelten Fragen der Methodik und die Verwirrung seiner Begriffe geradezu Genugthuung zu empfinden scheine, während dieselben, in Verbindung mit dem äusseren Einflusse dieses Mannes auf dem Gebiete unserer Wissenschaft, doch zu den ernstesten Betrachtungen über den gegenwärtigen Zustand der deutschen Nationalökonomie herausfordern.
Ich weiss, mein Freund, dass es eine grosse Sünde ist, über das Lächerliche zu lachen; indess es ist so schwer gegenüber einem kahlen und hochmüthigen Gegner nicht in den Ton des Hohns zu verfallen. Und welcher andere Ton gebührt den Ausführungen eines Mannes, welcher ohne die geringste solide Orientirung in den Fragen wissenschaftlicher Methodik sich wie ein vollgiltiger Richter über den Werth oder Unwerth der Ergebnisse methodologischer Untersuchungen gebärdet? Gibt es auf dem Gebiete der Wissenschaft eine zu ernster Betrachtung weniger geeignete Erscheinung, als die aufgeblähte Unwissenschaftlichkeit, welche über die Ergebnisse sorgfältiger wissenschaftlicher Forschung strenges Gericht hält?
Discutiren Sie in ernstlicher Weise über die schwierigsten Fragen der Erkenntnisstheorie mit einem 72 Manne, in dessen Geiste jedes Streben nach Reform der theoretischen Nationalökonomie, ja jede Pflege dieser letztern sich als Manchesterthum spiegelt. Discutiren Sie, ohne in einen heiteren Ton zu verfallen, über die obigen Fragen mit einem Gelehrten, dessen ganzes einigermassen originelles Wissen auf dem Gebiete der theoretischen Nationalökonomie in einem Urschleime historisch-statistischen Materiales besteht, mit einem Gelehrten, welcher die einfachsten Begriffe der Wissenschaftslehre unablässig mit einander verwechselt! Und ein solcher Streit sollte mir Genugthuung verschaffen? Wären Schmoller‘s Einwendungen gegen die Ergebnisse meiner methodologischen Untersuchungen mir nicht aus Gründen werthvoll, über welche ich mich in meinem ersten Briefe bereits ausgesprochen habe, wie gerne verzichtete ich auf die mir nichts weniger als erwünschte Discussion mit demselben und beschränkte mich darauf, die auffälligsten Entstellungen meiner Ansichten in seinem Jahrbuche, in ähnlicher Weise richtig zu stellen, wie ich dies gegenüber einem geistesverwandten Genossen desselben an anderer Stelle gethan habe.
Auch glauben Sie ja nicht, dass eine Discussion mit einem Gegner, wie Schmoller, müheloser, als mit einem in den behandelten Fragen noch so wohl orientirten Gelehrten sei. Wie leicht ist es einen solchen zu belehren, oder von ihm sich eines Besseren belehren zu lassen? Wie leicht ist es, — im Verhältnisse — in dem consequenten Gedankengefüge eines sachkundigen Forschers einzelne Unrichtigkeiten, ja einzelne Inconsequenzen und Irrthümer zu entdecken, und durch Blosslegung und Berichtigung derselben zur Förderung der Wissenschaft beizutragen? Wie erfreulich überdies, auf diese Weise einem Autor für die Berichtigung 73 unserer eigenen Ansichten und für die Belehrung, die wir aus seinen Schriften geschöpft haben, den Dank zu erstatten, den wir ihm schulden? Das schwierigste und unerquicklichste auf dem Gebiete der Wissenschaft ist stets der kritische Contact mit einseitigen Vertretern praktischer Parteibestrebungen, mit Männern, welche ihre Einseitigkeit und die schlechten Gewohnheiten des Parteikampfes auf die wissenschaftliche Discussion übertragen; um wie viel unerfreulicher, wenn solche Gegner gar mit dem Anspruche überlegener Wissenschaftlichkeit auftreten!
Wie in einer von sachkundiger Hand angelegten Fachbibliothek, und wäre dieselbe noch so reichhaltig, das Auge des Kenners leicht einzelne Lücken zu entdecken vermag, in einer willkürlich zusammengewürfelten Bücherei dagegen vergeblich nach einem Ruhepunkte sucht und sich schliesslich abwendet, weil dergleichen eigentlich die ernste Beurtheilung nicht herausfordert: so auch, wo es sich um die Beurtheilung des Wissens eines Schriftstellers handelt. Die Stärke des methodologischen Standpunktes Schmoller’s liegt darin, dass derselbe unfassbar, unter jeder ernsten Kritik ist. Und da wollen Sie es mir verargen, wenn ich mich weder durch die historisch- philosophischen Studien, von denen er uns unablässig erzählt, noch auch durch seine Vorlesung über die Methodologie der Staatswissenschaften, zu welcher er sich eben „rüstet“, irre führen lasse und den Methodiker Schmoller nicht ernster nehme, als er es verdient?
Was würden Sie z. B. dazu sagen, wenn ich die Gedanken Schmoller‘s über die eigentlichen methodologischen Probleme unserer Wissenschaft hier eines Nähern beleuchten wollte?
74 Seine Gedanken über die inductive und die deductive Methode auf dem Gebiete unserer Wissenschaft?
Die Ergebnisse seiner tiefsinnigen Untersuchungen über das Wesen und die Bürgschaften dieser Erkenntnisswege überhaupt und in der politischen Oekonomie insbesondere?
An Ihrem Entsetzen merke ich, wie wenig Sie selbst den Methodiker Schmoller ernst nehmen. Doch seien Sie unbesorgt, Sie haben dies Aeusserste nicht zu befürchten. Wer über die Ziele der Forschung auf dem Gebiete der Nationalökonomie so vollständig im Dunkeln tappt, wie der Herausgeber des Berliner Jahrbuches, dessen Gedanken über die Erkenntnisswege auf dem Gebiete unserer Wissenschaft sind gesichert gegen jeden Angriff.
Nur einiger auf die von mir bereits behandelten erkenntnisstheoretischen Probleme Bezug nehmender Bemerkungen Schmoller’s möchte ich hier noch gedenken, weil sie für die Art und Weise, in welcher von ihm Kritik geübt wird, und für seine Kampfesweise überaus charakteristisch sind.
Ich hatte es als die Aufgabe der historischen Wissenschaften bezeichnet, das individuelle Wesen und den individuellen Zusammenhang der Menschheitserscheinungen (ihre individuellen Beziehungen in Raum und Zeit!) zu erforschen und darzustellen.
Hier ergab sich von selbst für mich die interessante und von den Bearbeitern der Methodik der historischen Wissenschaften auch bereits vielfach aufgeworfene Frage, in welcher Weise diese letzteren gegenüber der unübersehbaren Menge von Einzelerscheinungen des Menschenlebens ihre Aufgabe zu lösen vermögen?
Die Mehrzahl der Autoren ist rücksichtlich der obigen Frage der Meinung, dass der Historiker die 75 wichtigeren Menschheitserscheinungen mit Hintansetzung der minder wichtigen darzustellen(1) und sich hierbei von seinem Tacte leiten zu lassen habe, da es an einem eigentlichen Principe für die Wahl der „historischen“ Erscheinungen, im Gegensatze zu jenen, deren Darstellung nicht Sache des Geschichtsschreibers sei, fehle.
Ich glaubte nun, für die obige interessante Frage in der Weise eine Lösung gefunden zu haben, dass der Historiker nicht lediglich einen Theil der Menschheitserscheinungen zu erforschen habe, da dies ja dem Principe der Universalität der Wissenschaften widersprechen würde. Der Historiker habe vielmehr die Gesammtheit der Menschheitserscheinungen darzustellen, jedoch all’ dies unter dem Gesichtspunkte collectiver Betrachtung. Ich sagte: „Dass die historischen Wissenschaften nur unter der Voraussetzung collectiver Betrachtung der Menschheitsphänomene, und die historischen Wirthschaftswissenschaften insbesondere nur unter jener der collectiven Betrachtung der Wirthschaftsphänomene ihrer Aufgabe in universeller Weise zu entsprechen vermögen, ergibt sich mit Rücksicht auf die unübersehbare Menge von Singularerscheinungen des Menschenlebens, beziehungsweise der menschlichen Wirthschaft und die Exigenzen der Technik wissenschaftlicher Darstellung von selbst. Die historischen Wissenschaften sind schon um ihrer universell-wissenschaftlichen Auf- 76 gabe willen nothwendig Darstellungen der menschlichen Wirthschaft unter dem Gesichtspunkte collectiver Betrachtung“.(2)
Und in einer Note zu den obigen Ausführungen sage ich:
„Hier ist zugleich auch die Grundlage für die Lösung des die Geschichtsforschung vielfach beschäftigenden Problemes zu suchen, welche Erscheinungen des Menschenlebens aus der unübersehbaren Menge derselben hervorzuheben und darzustellen, Aufgabe der historischen Wissenschaften sei? Diese letzteren haben in Wahrheit die Aufgabe, die Individualerscheinungen des Menschenlebens unter dem Gesichtspunkte collectiver Betrachtung darzustellen, die einzelne Erscheinung indessen nur insoweit, als sie für das collective Bild des Menschenlebens an sich von Bedeutung ist. Nur so vermögen dieselben ihrer specifischen Aufgabe in universeller Weise zu genügen.“
Auch das was man die künstlerische Aufgabe der Geschichtsschreibung nennt, findet in der obigen Auffassung vom Wesen der Geschichte und dem Verhältnisse derselben zu den Singularerscheinungen des Menschenlebens seine ausreichende Erklärung. „Die eigenthümliche Kunst des Geschichtsschreibers (auch jene des Statistikers!) — sage ich — besteht hauptsächlich in der Fähigkeit, uns die unübersehbare Menge von Phänomenen des Menschenlebens unter dem Gesichtspunkte collectiver Darstellung zum Bewusstsein zu bringen, uns ein collectives Bild der Entwicklung, beziehungsweise des Zustandes der Menschheitserscheinungen in ihrer Totalität zu bieten.“(3)
77 Diese von mir aufgestellte Theorie scheint meinem Kritiker einigermassen gefallen zu haben; er ist so fern davon, sie zu bekämpfen, dass er dieselbe vielmehr rückhaltlos acceptirt.(4) Indess in welcher für die Kampfesweise dieses Mannes kennzeichnenden Weise?
„Menger — schreibt derselbe — sieht nicht, dass alle wichtigeren volkswirthschaftlichen Erscheinungen räumlich und zeitlich so umfassend sind, dass sie nur einer collectivistischen Betrachtung, wie sie die Geschichte und die Statistik anstellen, zugänglich sind. Das ist ihm verschlossen.“ Dazu fehle mir das Organ!
Da haben Sie den Schmoller! den ganzen Schmoller!
Dass ein Kritiker einen Autor von diesem selbst klar ausgesprochene Gedanken im Tone zürnender Ueberlegenheit entgegensetzt — Lessing sagt irgendwo: „den Autor mit seinem eigenen Fette beträufelt“ — ist eine Armseligkeit, welche bei einer gewissen Kategorie von Recensenten nicht ganz ungewöhnlich ist; dass aber ein Kritiker Jemand die Kenntniss seiner eigenen Theorie bestreitet, ja ihm das Organ zum Verständniss derselben abspricht, ist eine Erscheinung, welche selbst bei dem heutigen desolaten Zustande eines Theiles der wissenschaftlichen Kritik auf dem Gebiete der politischen Oekonomie Deutschlands ihresgleichen sucht.
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(1) Schon Plinius (cap. 5, 8, 9 und 10) schreibt, nicht ganz ohne Beziehung auf unsere Frage: Habet quidem oratio et historia multa communia, sed plura diversa in his ipsis, quae communia videntur. Narrat sane ipsa, narrat haec, sed aliter. Huic pleraque humilia et sordida et ex medio petita, illi omnia recondita, splendida, excelsa conveniunt. Hanc saepius ossa, musculi, nervi, illam tori quidem et quasi jubae decent!
(2) „Untersuchungen“, S. 253 ff.
(3) Ebend., S. 255. Vgl. hierzu auch S. 86 u. 122 ff.
(4) Jahrbuch, a. a. O. S. 247.