Home Kontakt Sitemap Impressum

Wirtschaftlicher Liberalismus (1959)

1. Liberalismus und Nationalökonomie
2. Aufstieg und Niedergang des Liberalismus
3. Liberalismus und Sonderinteressen
4. Vorrang des Verbrauches und Freiheit des Marktes
5. Liberalismus und Außenhandel

4. Vorrang des Verbrauches und Freiheit des Marktes

Man erzeugt, um zu gebrauchen und zu verbrauchen. Je höher die
Ergiebigkeit der Erzeugung ist, desto mehr kann an greifbaren Gütern
oder an Muße- und Ruhezeit genossen werden. Es erscheint daher sinnlos,
zwischen Produzentenpolitik und Konsumentenpolitik zu unterscheiden.

Privilegien, die es minder leistungsfähigen Unternehmungen
ermöglichen sollen, sich im Wettbewerb gegenüber leistungsfähigeren
Unternehmungen zu behaupten, fördern das Wohl der Privilegierten auf
Kosten der Verbraucher. Gerade darum werden die Verbraucher einer
besonderen Ware, die in der arbeitsteiligen Gesellschaft naturgemäß die
Mehrheit gegenüber (600) einer Minderheit der Erzeuger bilden, solche
Benachteiligung auf die Dauer nicht dulden wollen. Will man die
Mehrheit beschwichtigen, indem man jede einzelne Produzentengruppe
gleichmäßig privilegiert, dann verliert jeder einzelne zunächst als
Käufer und Verbraucher das, was er als Erzeuger und Verkäufer gewinnt.
Darüber hinaus werden alle durch die Verringerung der Produktionsmenge
geschädigt. Das haben besonders auch jene verkannt, die den
"lückenlosen Schutzzoll" oder den gleichmäßigen Schutz aller
schutzbedürftigen Interessen gefordert haben.

Dieser Gedankengang der liberalen Ablehnung aller Sonderbegünstigungen
ist logisch unangreifbar. In der Geschichte der beiden letzten
Menschenalter (also seit etwa den 1890er Jahren) hat sich jedoch gerade
die Bekämpfung der von einzelnen Gruppen von Erzeugern angestrebten
Privilegien als der unpopulärste Punkt des liberalen Programms
erwiesen. Allgemein wird heute die Privilegierung der "wirtschaftlich
Schwachen", d. h. derer, die im Wettbewerb nicht zu bestehen vermögen,
als eine wichtige Staatsaufgabe angesehen. Zollschutz,
Steuerbegünstigungen, mittelbare oder unmittelbare Zuwendung von
öffentlichen Geldern, Beschränkung des Wettbewerbs derer, die Besseres
leisten, und viele andere Mittel dienen diesem Zwecke. Die Verbände der
Lohnempfänger, der Landwirte, der Kleingewerbetreibenden, des
Einzelhandels und selbst die der liberalen Berufe sind unermüdlich im
Kampfe um solche Förderung, d. h. Privilegierung, ihrer vermeintlichen
Interessen. Die ursprünglich zur Abwehr solcher Diskriminierung
gegründeten Vereinigungen der Großunternehmer haben sich auf die Dauer
dem Zeitgeist nicht verschließen können. Auch sie bewerben sich heute,
wenn auch meist erfolglos, um Sonderbegünstigungen für ihre Mitglieder.
Alle politischen Probleme, auch die der Außenpolitik und der
Landesverteidigung, werden von Interessentengruppen [–-> Pressure
Groups] von dem Standpunkt der Privilegien, die sie bereits besitzen
oder erst anstreben, beurteilt. Die Parlamentarier betrachten sich
vielfach weniger als Vertreter des ganzen Volkes denn als Vertreter
bestimmter Interessen, für die sie durch geschicktes Verhandeln mit den
Vertretern anderer Gruppen möglichst viel herauszuschlagen suchen. In
den Kabinetten fühlen sich manche Ressortminister vor allem als die
berufenen Anwälte der betreffenden Sonderinteressen.

Immerhin mag man feststellen, daß verschiedene krasse Maßnahmen der
Privilegienpolitik in der Öffentlichkeit auch noch heute auf
Widerspruch stoßen. Das gilt besonders von Bestrebungen, die Preise von
Artikeln des Massenverbrauchs zu erhöhen, und von Geldaufwendungen
zugunsten einzelner Gruppen. Dagegen werden gesetzliche Preistaxen,
Höchstpreise für Waren und Höchstmietpreise auf der einen Seite,
Mindestlöhne für Arbeits- und Dienstleistungen auf der anderen Seite
nahezu allgemein gebilligt. Der von Nationalökonomen und von liberalen
Politikern erhobene Widerspruch wird fast ausnahmslos als Verteidigung
unbilliger Sonderinteressen gedeutet.

Der Liberalismus bekämpft die behördliche Preisfestsetzung wegen ihrer
Zweckwidrigkeit. Die Regierung wünscht eine bestimmte Ware zu
verbilligen und setzt zu diesem Zwecke einen .Höchstpreis fest, der
niedriger ist als der auf dem Markte gebildete Preis. Die unmittelbare
Folge ist, daß auf der einen Seite die Nachfrage wächst, da manche sich
zu dem niedrigen Preise mehr von der betreffenden Ware leisten können
als vorher. Auf der andern Seite fällt das Angebot, da die mit den
höchsten Kosten arbeitenden Erzeuger nun Verluste erleiden und daher
die Erzeugung einschränken oder einstellen. Die Regierung wollte die
Lage der Verbraucher verbessern; sie hat sie jedoch verschlechtert: Das
Angebot der Ware, die die Regierung für so lebenswichtig hält, daß sie
sie zum Gegenstand einer besonderen Verfügung gemacht hat, sinkt.

Der Mißerfolg der Preistaxe wird allgemein dem Umstande zugeschrieben,
daß sie die Preise der komplementären Produktionsfaktoren unberührt
läßt. Um die Rentabilität der durch die Preisfestsetzung
ausgeschalteten Grenzbetriebe wieder herzustellen, sucht nun die
Regierung auch die Preise dieser komplementären Produktionsfaktoren in
ihre Höchstpreispolitik einzubeziehen. Doch dann wiederholt sich auf
einer höheren Ebene dasselbe, was sich im Gebiete der Preise des
regulierten Verbrauchgutes vorher vollzogen hat: Die Menge der
erzeugten und zu Markt gebrachten Waren sinkt. Die Behörde steht wieder
vor einem Fehlschlag. Um doch einen Erfolg zu erzielen, sucht sie noch
einen Schritt weiterzugehen und dekretiert Höchstpreise für die zur
Erzeugung dieser Produktionsmittel benötigten Produktionsmittel höherer
Ordnung und so fort.

Der vereinzelte preispolitische Eingriff der Obrigkeit in das Getriebe
der Marktwirtschaft ist – wie ersichtlich – nicht nur zwecklos, sondern
zweckwidrig. Ehe die Preistaxe erlassen wurde, war die Ware – nach der
Meinung der Obrigkeit – zu teuer; der behördliche Eingriff verknappt
sie. Die Behörde wollte die Versorgung der Verbraucher verbessern; sie
hat sie verschlechtert. Will die Obrigkeit diesen Mißerfolg nicht
einfach hinnehmen, dann muß sie dem ersten Schritt immer weitere folgen
lassen: Preistaxen für alle sachlichen Produktionsmittel; Weisungen, an
wen und wieviel verkauft werden darf; Lohntarife und Arbeits- (601)
pflicht für die Arbeiter; Produktionszwang für Unternehmungen und
Anlagezwang für verfügbares Kapital. Alle diese Vorschriften dürfen
sich nicht auf einen oder wenige Produktionszweige beschränken, da
sonst Kapital und Arbeit von den Produktionszweigen, die die Obrigkeit
reglementiert, weil sie sie für besonders lebenswichtig hält, in jene
Zweige abströmen würden, die die Obrigkeit für minder wichtig hält. Die
Reglementierung muß daher allumfassend sein. Damit aber hat die
Obrigkeit alle wesentlichen Funktionen des Marktes lahmgelegt und die
Leitung der gesamten Produktion und Verteilung an sich gezogen. Nicht
die Nachfrage der Verbraucher auf dem Markte, sondern die Obrigkeit
bestimmt nunmehr, was, wie und in welcher Menge und Beschaffenheit
erzeugt werden soll und was der einzelne verzehren und gebrauchen darf.
Das ist nicht mehr Marktwirtschaft, sondern ein System planmäßig von
einer Zentralstelle geleiteter Produktion und Verteilung, ein
sozialistisches System nach Art dessen, das im ersten Weltkrieg im
Deutschen Reich vom Hindenburgplan angestrebt wurde und das sich im
zweiten Weltkriege in Deutschland, in England und in manchen anderen
Ländern herausgebildet hat. Es gibt dann nur dem Namen nach Preise,
Löhne, Zinssätze und Unternehmergewinne. In Wahrheit handelt es sich
bei diesen Größen um mengenmäßige Bestimmungen in den
planwirtschaftlichen Anordnungen der Obrigkeit. Es besteht, wie Othmar
Spann (1921) erklärt hat, „formell Privateigentum, der Sache nach aber
nur Gemeineigentum".

Die Kritik, die der Liberalismus an dem Programm obrigkeitlicher
Preisfestsetzung übt, bedeutet zugleich eine Kritik aller jener
Vorschläge, die den Gegensatz von Marktwirtschaft und Sozialismus durch
ein drittes System beheben wollen, das in der Meinung seiner
Befürworter gleich weit von beiden "Extremen" entfernt ist, dabei die
Nachteile beider vermeidet und ihre Vorzüge beibehält. Diese
Kompromißlösung zeitigt zunächst Folgen, die – vom Standpunkte ihrer
Befürworter – unbefriedigender erscheinen müssen als das Verharren an
dem, was sie starres Manchestertum nennen und ablehnen. Ihr Mißerfolg
läßt der Obrigkeit nur die Wahl zwischen zwei Wegen. Sie kann entweder
von jeder Zwangsregulierung der Markterscheinungen absehen und damit
das, was man die Souveränität der Käufer genannt hat, wieder
herstellen. Oder sie muß Schritt für Schritt weitergehen in ihren
Anordnungen, bis sie schließlich bei der vollen Planwirtschaft, dem
Sozialismus, angelangt ist. Der –-> lnterventionismus kann nicht als
dauerndes Wirtschaftssystem bestehen. Wenn man an ihm festhält,
bereitet man den Übergang von der Marktwirtschaft zur Planwirtschaft,
zum Sozialismus.

weiter