Das österreichische Problem (1923)
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Quelle: Neue Freie Presse (Wien) Nr. 20977, 5. Februar 1923
In einem jüngst erschienenen Buche, das den Titel „Der Selbstmord eines Volkes, Wirtschaft in Oesterreich” führt, unternimmt es Dr. Siegfried Strakosch, das österreichische Wirtschaftsproblem gründlich zu untersuchen. Dr. Strakosch, der selbst in der Industrie und in der Landwirtschaft tätig ist und sich als agrarpolitischer Schriftsteller einen weit über die Grenzen des deutschen Sprachgebietes hinausgehenden Ruf erworben hat, besitzt wie kaum jemand die Eignung, diese schwierigen und verwickelten Fragen zu behandeln. Er löst die Aufgabe, die er sich gestellt hat, so gut, als es heute überhaupt möglich ist. Spätere werden mehr Material zusammentragen und manche Einzelheiten ergänzen können; in der Erfassung der tieferen Zusammenhänge und in der Erkenntnis des Grundproblems werden sie Strakosch nicht zu übertreffen vermögen.
Das Grundübel, an dem Oesterreich leidet, ist die Herrschaft der sozialistischen Ideen. Die sozialdemokratische Partei herrscht, trotzdem sie in der Bevölkerung und im Parlament nicht die Mehrheit hat und formell in der Opposition ist, in der Tat schrankenlos. „Zersplittert und schwächlich stehen die bürgerlichen Parteien der Sozialdemokratie gegenüber, unfähig, ihre immerhin stattliche zahlenmäßige Ueberlegenheit zur Geltung zu bringen.“ Die Sozialdemokratie herrscht, weil sie die Wehrmacht hinter sich hat, weil sie jeden Augenblick durch Stillegung der Verkehrsanstalten und der Beleuchtungswerke der Bevölkerung ihren Willen aufzuzwingen vermag. Solange diese Herrschaft ungebrochen besteht, muss jeder Versuch, das Land zu sanieren, misslingen.
Man kann das Gleichgewicht im Staatshaushalt nicht herstellen, wenn man nicht die zahlreichen öffentlichen Betriebe abstößt, die mit ihren Milliardendefiziten jeden Versuch, Ordnung in den öffentlichen Haushalt zu bringen, vereiteln. Doch die Sozialdemokraten gestatten nicht, dass die Bahnen, die Tabakfabriken, die Salzbergwerke, die Gemeindebetriebe, die gemeinwirtschaftlichen Anstalten und wie alle diese Unternehmungen heißen mögen, „dem Privatkapital ausgeliefert“ werden. Am Achtstundentag darf nicht gerüttelt werden, trotzdem es klar ist, dass die österreichische Industrie nicht konkurrenzfähig werden kann, solange er fortbesteht. Alles, was die Wirtschaftspolitik der sozialistischen Parteien zustande bringt, ist das Fortsteuern von Kapital, das in Konsumgüter umgewandelt und aufgezehrt wird. Das alleinige Heilmittel, das die sozialdemokratische „Finanzpolitik“ empfiehlt, ist die Beschlagnahme von Vermögensobjekten aller Art, ist die Beschlagnahme der Valuten und Devisen und der nationalstaatlichen Effekten. Verzehren, zerstören, das ist ihrer Weisheit letzter Schluss. „Wir verteilen,“ sagt Strakosch, „nicht nur das Volkseinkommen, sondern weit mehr. Wir essen nicht nur Einkommen auf, sondern Vermögen. Was wir für Volkseinkommen halten, was uns als solches vorgespiegelt wird, ist zum kleinsten Teil Volkseinkommen, zum grössten Teil vernichtetes Produktivkapital, das Vermächtnis fleißigerer und genügsamerer Epochen.“
Der Demagoge denkt nur an das Heute, nicht auch an die Zukunft. Meisterhaft hat vor bald vierzig Jahren Stourm, der Geschichtsschreiber der französischen Revolution, die finanzpolitischen Grundsätze der Jakobiner charakterisiert. „Die Finanzpolitik der Jakobiner bestand allein darin, für die Gegenwart alles auszuschöpfen und die Zukunft zu opfern. Das Morgen galt niemals für sie; die Geschäfte wurden jeden Tag so geführt, als ob er der letzte wäre; das war das eigentliche Charakteristische aller Handlungen der Revolution. Hier liegt auch das Geheimnis ihrer erstaunlichen Dauer: die tägliche Ausplünderung der angesammelten Reserven ließ bei einer reichen und mächtigen Nation unerwartete Quellen erschließen, die alle Erwartungen übertrafen. Die Assignaten überschwemmten in immer grösserer Menge das Land, solange als sie überhaupt noch etwas galten. Die bestimmte Aussicht, dass es zum Zusammenbruch kommen muss, hat ihre Ausgabe nicht einen Augenblick aufgehalten. Sie wurde nicht eher eingestellt, als bis das Publikum sich absolut weigerte, irgendeine Art von Papiergeld, und sei es auch nur zu den ungünstigsten Bedingungen, anzunehmen.“ Man kann die Darstellung, die Stourm von Vermögensabgaben und Zwangsanleihen, von den Maßnahmen gegen die Börse und gegen die Valutaspekulation, von den Vorschriften über Preistreiberei und über Lebensmittelrationierung gibt, nicht lesen, ohne an die Politik zu denken die Oesterreich nun schon seit Jahren zu seinem Schaden betreibt. Das düstere Bild, das Strakosch von ihr entwirft, ist leider nur zu wahr.
„Gründliche Einkehr, vollständige Umkehr ist unerlässlich,“ sagt Strakosch und lässt sein Buch in die Worte ausklingen: „Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.“ Möge sein Mahn- und Weckruf von allen gelesen und beherzigt werden.