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Brauchen wir staatliche Armenhilfe? (1998)

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Quelle: Aufklärung und Kritik, Sonderheft 2/1998, S. 93-99

Als ein wesentlicher Zweck moderner Staaten wird die Umverteilung der Einkommen angesehen. Dabei werden zwei ähnliche, aber nicht völlig gleiche Zielsetzungen verfolgt. Die erste von ihnen ist egalitärer Natur: Jeder Untertan der Regierung soll – unabhängig von allen anderen Erwägungen wie Leistung, Verdienst usw. – möglichst das gleiche Einkommen beziehen und die gleichen Lebensumstände genießen. Die zweite Zielsetzung ist sehr viel bescheidener: Nur diejenigen sollen in den Genuß staatlicher Umverteilung kommen, die sich nicht aus eigener Kraft helfen können. Es geht mit anderen Worten um Hilfe für die Armen und Schwachen der Gesellschaft, für jene, „die durch das soziale Netz gefallen sind”. Im folgenden werde ich kurz die unüberwindlichen Hindernisse besprechen, die der egalitären Zielsetzung entgegenstehen. Anschließend erfolgt eine grundsätzliche Kritik staatlicher Armenhilfe.(1)

Egalitäre Umverteilung

Zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft kann keine vollkommene Gleichheit herrschen. Die bloße Tatsache, daß sie nicht identisch sind, bedeutet bereits eine grundlegende Ungleichheit, und diese Ungleichheit erzeugt immer wieder neue Unterschiede in den Lebensverhältnissen der nichtidentischen Gesellschaftsmitglieder.

Aus diesem Grund macht die Verfolgung egalitärer Gleichheit einen totalen Staat erforderlich, der in jede Verästelung des individuellen Lebens eingreifen kann. Je gleicher die Individuen durch eine egalitäre Politik gemacht werden, desto deutlicher treten auch noch die kleinsten Ungleichheiten hervor und desto umfassender muß die Macht des Staates sein, um diese immer kleiner werdenden Unterschiede zu planieren. In ihrer radikalen Form wird egalitäre Gleichheit daher nur selten angestrebt. Sie erinnert zu sehr an Orwells Großen Bruder, als daß sie große Überzeugungskraft entwickeln könnte. Es gibt aber auch Erwägungen, die es zweifelhaft erscheinen lassen, ob „Gleichheit der Lebensverhältnisse“ überhaupt ein erreichbares Ziel ist. Die grundsätzliche Schwierigkeit des Gleichheitsideals liegt darin, daß die Lebewesen dieser Welt und insbesondere die Menschen nicht einförmig sind. Menschliches Leben ist keine homogene Einheit, sondern eine kaleidoskopische Vielfalt. Man kann diese Vielfalt beschränken, man kann versuchen, jede Äußerung individuellen Lebens zu unterbinden, und die großen Diktatoren unseres Jahrhunderts haben das versucht. Doch alle denkbaren Versuche dieser Art sind zum Scheitern verurteilt. Selbst wenn einem zukünftigen Diktator gelänge, was noch keinem vor ihm gelungen ist, nämlich die Reproduktion der Menschheit unter seine Kontrolle zu bringen und den gesamten menschlichen Nachwuchs zu klonen, so könnte er doch nie die erträumte Einheitswelt hervorbringen. Er würde das menschliche Leben trist machen, er würde ein Jammertal auf Erden schaffen, doch Gleichheit der Menschen schüfe er nicht. Denn auch seine Klonenbrut wäre von menschlichem Geist beseelt, und dieser Geist ist ein individueller. Jede seiner Regungen ist individuell, und ständig bringt er Verschiedenheit hervor. Man verklone eine ganze Generation – ein paar Generationen später steht die Mannigfaltigkeit erneut in Blüte. Eine Gesellschaft zu verklonen, ohne die Individuen ganz auszurotten, gleicht dem Versuch, einen Wassertopf auf der Flamme zum Frieren zu bringen: Es mag gelingen, eine Eisschicht auf der Oberfläche zu erzeugen, aber die tiefer liegenden Umwälzungen bringt man erst dann zum Stillstand, wenn man auch die Flamme tötet.

Die Individualität des Menschen erscheint vielen abträglich für das Leben in Gesellschaft. Sie glauben, daß Ungleichheit die Gesellschaft zum Zerbrechen bringt. Wer größer und stärker, klüger und gebildeter ist, meinen sie, dem kann nichts an einer gleichberechtigten Zusammenarbeit mit Menschen liegen, die ihm unterlegen sind. Wer alles besser kann als seine Mitmenschen, dem können diese allenfalls noch als Sklaven nützlich sein. Weit gefehlt! Nicht nur, daß Ungleichheit keiner Gesellschaft schadet. Es ist geradezu umgekehrt: Auf Mannigfaltigkeit allein beruht jede menschliche Gesellschaft. Denn wenn alle Menschen gleich wären, könnten sie keine Zusammenarbeit beginnen, die für alle beteiligten Seiten nützlich wäre. Sie hätten sich einander schlichtweg nichts zu geben. Nur weil sie unterschiedlich sind, weil sie über verschiedene Gaben und verschiedene Ausprägungen ihrer produktiven Talente verfügen, kann sich eine Zusammenarbeit zwischen ihnen lohnen. Das ist das „Gesetz der komparativen Kostenvorteile”, mit dem uns die großartigen Ökonomen Ricardo und Mises das gundlegende „Vergesellschaftungsgesetz” aufgezeigt haben.(2)

Egalitäre Gleichheit ist kein sinnvolles Ziel für menschliches Handeln. Es scheitert ständig an der Natur des Menschen, und wird es dennoch verfolgt, so erzeugt es Not und Elend und zerstört damit auch die Regierung, die sie verwirklichen will. Doch die weitaus meisten Befürworter einer staatlichen Umverteilungspolitik haben keineswegs dieses egalitäre Ziel vor Augen. Sie wollen lediglich, daß der Staat den Hilflosen hilft. Mit diesem Anliegen werden wir uns im folgenden befassen.

Dazu sollten wir zunächst klären, was der Ruf nach staatlicher Hilfe im Kern bedeutet. Was bedeutet es, wenn wir staatliches Handeln fordern? Die Antwort ist einfach und ernüchternd: daß wir unsere Ziele mit Hilfe der Polizei verfolgen möchten.(3) Wenn wir vom Staat verlangen, er solle den Armen helfen, dann verlangen wir, daß er andere Leute zwingen soll, den Armen zu helfen. Denn der Staat kann den Armen nur das Geld geben, das er zuvor als Steuern erhoben hat. Soll der Staat also mehr Steuern für die Armenhilfe eintreiben? Ja! rufen die Fürsprecher dieser Politik, und stillschweigend fügen sie hinzu: „… wer nicht zahlen will, kriegt es mit der Polizei zu tun.”

Nachdem wir uns diese Tatsache bewußt gemacht haben, können wir unsere Ausgangsfrage etwas genauer formulieren. Sie lautet nicht mehr allgemein: „Brauchen wir staatliche Armenhilfe?”, sondern sie heißt jetzt: „Brauchen wir staatliche Gewalt, um armen Leuten zu helfen?”

Private Wohlfahrtsproduktion in der neueren Geschichte

Ein flüchtiger Blick in die Geschichte des neunzehnten und des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts zeigt uns, wie Armut mit privaten Mittel gelindert werden kann – und wie der Staat diesen privaten Initiativen systematisch das Wasser abgegraben hat.(4)

Das wirkungsvollste Mittel war und ist dabei ein kräftiges Wirtschaftswachstum. Zu keiner Zeit und an keinem Ort wurde massenhafte Armut jemals mit bloß philanthropischen Mitteln beseitigt. Armut bedeutet ein geringes Realeinkommen, also eine geringe Verfügung über Konsumgüter. Um Armut zu beseitigen, muß daher viel und vor allem möglichst produktiv gearbeitet werden, damit die benötigten Konsumgüter so schnell wie möglich entstehen. Dieser Arbeit fügt der Staat nichts hinzu, wenn er ständig neue Gesetze erläßt, dieses verbietet und jenes besteuert. Er behindert damit nur die Produktion der gewünschten Güter. Die beste Sozialpolitik ist daher eine Wirtschaftspolitik, die den einzelnen Arbeitern nicht im Wege steht. Jeden Bürger soll man bei seiner Arbeit in Frieden gewähren lassen – das ist die Bedeutung des alten liberalen Schlachtrufs laissez faire!

Doch es gab auch eine Vielzahl privater Institutionen, die dazu dienten, hilfsbedürftigen Menschen unter die Arme zu greifen. Wichtigste Produktionsstätte sozialer Leistungen war natürlich die Familie, und traditionell waren Frauen die Produzenten einer Vielzahl sozialer Leistungen, die von der Kranken- bis zur Altenpflege, von der Hilfe bei Schulaufgaben bis zur Vermittlung von Werten und Gesinnung, vom Kochen und Putzen bis zum Holzhacken reichten. In unserem Jahrhundert hat der Staat einen dieser Tätigkeitsbereiche nach dem anderen unter seine Fittiche genommen – und dafür müssen die Familien zahlen, ob sie die betreffenden Leistungen nun lieber selber erbringen würden oder nicht.

Ein ähnliches Schicksal teilten die privaten Wohltätigkeitsvereine, die es in vielen Städten gab. Sie sahen ihre Aufgabe in der Regel darin, jenen zu helfen, die durch das soziale Netz der Familie fielen. Damit erfüllten sie eine Funktion, die der heutigen staatlichen Sozialhilfe entspricht. Sie waren „private Wohlfahrtsproduzenten”. Auch diese privaten Wohlfahrtsproduzenten verdrängte der Staat, indem er ihnen die Mittel nahm, auf die sie angewiesen waren. Denn zur Finanzierung der staatlichen Sozialhilfe waren höhere Steuern erforderlich, und somit konnten die Bürger nicht nur weniger Geld für mildtätige Zwecke spenden, sondern sie verspürten auch immer weniger Lust dazu. „Was soll ich noch spenden, wo ich doch ohnehin meinen Obulus in Form von Steuergeldern entrichtet habe?” – so dachten und denken viele, und das hat eine weitere, schwerwiegende Konsequenz: Die staatliche Mildtätigkeit macht die Bürger dem Elend ihrer Mitmenschen gegenüber zunehmend gleichgültig. Es ist mit anderen Worten der Staat selber, der den vielbeschworenen sozialen Mörtel bröckeln läßt. Doch die Staatsfans sehen das anders. Sie nehmen die zunehmende soziale Kälte zum Anlaß, noch mehr Steuern für mildtätige Zwecke zu fordern, was natürlich die Gleichgültigkeit gegenüber Mitmenschen noch erhöht.

Die private Wohlfahrtsindustrie war nicht bloß auf Familien und Wohltätigkeitsvereine beschränkt. Viele Berufsgruppen, darunter insbesondere Ärtze und Rechtsanwälte handelten philanthropisch, indem sie ihre Preisforderungen vom Einkommen der Kunden abhängig machten. Arme zahlten weniger, Reiche mehr. Auch diese Form der Armenhilfe hat sich der Staat angeeignet, um sie sogleich in sein Zwangskleid zu stecken und damit jeder gleichgerichteten privaten Initiative den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Welche geschichtlichen Beispiele aus der Produktion von Wohlfahrtsleistungen man auch nimmt – das Ergebnis ist immer gleich: Genau wie in allen anderen Produktionsbereichen handelt der Staat hier verschwenderisch und unangemessen. Die Darreichung der Hilfe ist bekanntermaßen unflexibel und bürokratisch, und daher verfehlt sie die individuellen Bedürfnisse häufiger und gravierender als es bei privater Hilfe der Fall wäre. Im übrigen ist aus dem gleichen Grund das Interesse der Wohlfahrtsbürokraten an einer Kontrolle der Leistungsempfänger gleich Null. Wenn sie einzelnen Schmarotzern zu sehr auf die Finger schauen, werden sie gleich zurückgepfiffen, da der Maßstab ihres Handelns nicht ihr eigenes Ermessen, sondern der unbeugsame (und unflexible) Buchstabe des Gesetzes sein soll. Natürlich schützt uns genau diese Unflexibilität vor der Willkür einzelner Beamter. Das ist ja gerade die „Tragik des Staates” – jene Dialektik, daß die Bollwerke, die uns vor amtlicher Willkür schützen sollen, das Einfallstor der Schmarotzer und Tunichtgute sind. Im Bereich der Wohlfahrtsproduktion gilt daher genau wie in allen anderen Produktionsbereichen: Je weniger Staat, desto besser.

Trotz all dieser Argumente hegen die meisten Menschen – und auch viele entschiedene Liberale – Vorbehalte gegen eine rein private Wohlfahrtsproduktion. Sie bestreiten gar nicht die Berechtigung der obigen Überlegungen. Ihnen liegt aber etwas anderes am Herzen, das sie vielleicht so formulieren würden: „Es ist richtig, daß der Staat Zwang und Gewalt ausübt und daß er sich hierin von der Bürgergesellschaft unterscheidet. Aber gerade weil bürgerliche Hilfe nur freiwillig dargereicht wird, kann sie mitunter nicht auslangen. Was ist denn mit jenen, die durch alle freiwilligen Sicherungssysteme gefallen sind? Wenn es keinen Staat gäbe, würden sie verrecken. Deshalb befürworte ich staatlichen Zwang, um auch diesen Menschen noch in der Not zu helfen.”

Gewaltsame Armenhilfe – der räuberische Samariter und der Staat

Die entscheidende Frage lautet also: Was ist, wenn freiwillige private Hilfe nicht ausreicht, um Hilfsbedürftige zu unterstützen? Brauchen wir den Staat nicht wenigstens dann?

Erörtern wir diese Fragen an einem Beispiel:
Krösus sitzt an einem wohlgedeckten Tisch in seinem Garten. Vor sich siehter knusprige Schweinshaxen, saftige Weißwürste, duftendes Sauerkraut, goldgelbe Bratkartoffeln, ein aromatisches Nokkerlnsüppchen, ein Flasche vom besten Rotwein und was sein Herz nicht sonst noch begehrt. Nun kommen vier Hungerleider des Weges. Sie schleppen sich mit letzter Kraft und drohen, in der nächsten Stunde den Hungertod zu sterben. Das alles sieht ein barmherziger Samariter. Er springt herbei und teilt seine karge Wegzehrung unter dreien von den Hungerleidern auf. Für den vierten reichen seine Mittel nicht. Darauf wendet er sich an Krösus: „Sprich Kamerad, willst Du dem vierten Hungerleider nicht helfen?” – doch dieser erwidert ungerührt: „Nein.” Da der Samariter nun alle freiwilligen Mittel ausgeschöpft hat und er doch den Hungertod seines vierten Schützlings nicht vermeiden kann, packt er sich einfach ein paar Würste vom Tisch des Krösus und gibt sie dem schon todgeweihten Hungerleider.

Aus dem Samariter ist also ein räuberischer Samariter geworden, eine Art Robin Hood, und wenn ich nicht ganz falsch liege, beruhen die Sympathien für die staatliche Armenhilfe auf den Sympathien, die räuberischen Samaritern entgegengebracht werden. Wie ist dieser Fall mithin zu beurteilen? Stellen wir dabei eine entscheidende Frage an den Anfang: Hat der räuberische Samariter gerecht gehandelt?

„Es kommt darauf an” sollten wir unsere Antwort einleiten. Denn bislang wurden einige Fragen außer betracht gelassen, die für die Beurteilung der Situation zumindest genauso wichtig sind, wie die Sympathie, die dem räuberischen Samariter spontan entgegenschlägt. Was ist etwa, wenn der vierte Hungerleider ein Faulpelz ist, der sein Vermögen verpraßt hat und alle Ermahnungen zur Mäßigung stets aus dem Wind geschlagen hat, darauf vertrauend, daß er immer auf Menschen trifft, die ihm helfen? Ein solcher Mensch hätte noch nie für andere gearbeitet. Mit welchem Recht könnte er einen Anspruch auf Hilfe haben? Welches Recht könnte einen Raub zu seinen Gunsten begründen? Hätte er den Hungertod nicht verdient? Und noch eine zweite wichtige Frage haben wir bislang vernachlässigt, nämlich die Frage, wie Krösus überhaupt zu seinem wohlgedeckten Tisch kam. Was ist, wenn er die Festtafel durch harte Arbeit erworben hat? Durch seine Arbeit hat er anderen Menschen – und insbesondere auch armen Menschen – das Leben erleichtert. Was ist nun, wenn er sich sagt: „Alle meine Anstrengungen sind vergebens, wenn mir die Früchte meiner Hände Arbeit geraubt werden.” – und daraufhin keine – oder weniger – Güter produziert? Würde eine solche Entscheidung nicht bedeuten, daß es künftig vielen armen Leuten schlechter gehen würde? Würde somit der räuberische Samariter mit seiner Menschenliebe nicht unnötiges Elend in der Zukunft heraufbeschwört haben?

Wer diese Fragen stellt und sie nüchtern erwägt, wird vieles von seiner spontanen Sympathie für den räuberischen Samariter verlieren. Doch fragen wir weiter, fragen wir geradeheraus: Was ist, wenn Krösus kein arbeitsamer Mensch ist, sondern ein Faulpelz, der nur das Glück hatte, als reicher Erbe geboren worden zu sein? Was ist, wenn der vierte Hungerleider sich keineswegs leichtfertig in seine mißliche Situation gebracht hat, sondern durch Erdbeben oder Vertreibung unglücklich um sein Hab und Gut gebracht worden ist? Wäre es nicht wenigstens dann gerecht, Krösus zugunsten des Hungerleiders zu berauben? Nein, auch das ist nicht gerecht. Denn egal, auf welches Recht der räuberische Samariter sich beruft, es muß ein gleiches Recht für alle sein. Genau das ist hier aber nicht der Fall. Indem der Samariter Krösus beraubt, bestreitet er ihm ein Recht, das er für sich selber in Anspruch nimmt. Er bestreitet ihm das Recht auf ungestörtes Eigentum am eigenen Körper, an den Früchten der eigenen Arbeit und an allen Gütern, die einem von anderen Eigentümern freiwillig übertragen wurden. Nicht auf Rechtsgründe kann der räuberische Samariter daher seine Tat zurückführen, sondern nur auf seine größere Gewalt im Moment der Tat. Der Samariter handelt also ungerecht, und dadurch macht er sich an Krösus schuldig. Krösus hat ein Recht auf Schadensersatz für das Raubgut und auf Bestrafung des Täters. Kommen wir somit zu der hier entscheidenden Frage: Folgt aus der Unrechtmäßigkeit von Raub und Diebstahl, daß niemand rauben und stehlen sollte, um armen Menschen (oder wem auch immer) zu helfen? Nein, das folgt nicht daraus.

Alles, was wir sagen können, ist: daß eine solche Handlung ungerecht ist; daß der Täter die Aneignungsregeln verletzt, auf denen gesellschaftliches Zusammenleben beruht, und damit zu einem Verbrecher wird; und daß er sich deshalb dem Opfer seines Verbrechens gegenüber schuldig macht. Das ist alles. Jede Gesellschaft beruht auf der gegenseitigen Anerkennung des gleichen Rechts, das jeder Mensch an seinem Körper, seiner Arbeit und an den anderen Bestandteilen seines Eigentums hat. Aber daraus folgt nicht, daß man Eigentum nicht verletzen soll. Ob man das tut oder nicht, ist eine Entscheidung jedes Einzelnen, und zwar eine Grundsatzentscheidung, die die Teilnahme am Leben in Gesellschaft betrifft. Ein Verbrechen schließt eine solche Teilnahme zwar nicht für immer und ewig aus, doch es beeinflußt in jedem Fall die Art und Weise der künftigen Teilnahme. Man stellt sich durch die Verletzung von Eigentum immer außerhalb der Gesellschaft, aber nur dann dauerhaft, wenn man für die eigene Tat nicht auch mit dem eigenen Eigentum die Verantwortung trägt. Wenn ein Verbrecher für seine Tat die Verantwortung trägt und seine Schuld begleicht, kann er wieder in die Gesellschaft zurückkehren. Tut er dies nicht, so stellt er sich dauerhaft neben sie.

Kehren wir zu unserem Beispiel zurück. Nachdem der räuberische Samariter dem Hungerleider mit den geklauten Würsten ausgeholfen hat, stellt er sich seinem Opfer Krösus. Krösus verlangt ein anderes Paar Würstchen als Schadensersatz und ein weiteres Paar zu Strafe. Der Samariter kauft diese Waren ein oder geht arbeiten oder arbeitet direkt für Krösus, bis die Schuld beglichen ist. Darüberhinaus muß er für unabsehbare Zeit damit rechnen, daß seine Mitmenschen ihm gegenüber mißtrauisch sind, da man nie wissen kann, wann er wieder einen seiner altruistischen Anfälle bekommt. Wie sieht also das Endergebnis aus? Es läßt sich in drei Punkten zusammenfassen: 1. Dem Hungernden ist geholfen. 2. Der räuberische Samariter folgte seinem Gewissen; daß er nun von vielen Mitmenschen geschnitten wird, nimmt er in Kauf. 3. Krösus ist entschädigt, der Raub wurde bestraft, und der Gerechtigkeit ist somit genügegetan. Man beachte nun folgendes: Kein Staat und kein staatliches Eingreifen war erforderlich, um diese für alle Seiten befriedigende Situation herbeizuführen. Daraus folgt, daß selbst wenn freiwillige private Initiative nicht ausreicht, um den Armen (oder wem auch immer) zu helfen, immer noch die Lösung verbleibt, auch die verbrecherische Anwendung von Gewalt privat, d.h. verantwortlich zu gestalten – worauf dann der Übeltäter zur Rechenschaft gezogen wird.

Vergleichen wir dieses Ergebnis mit der staatlichen Armenhilfe. Auch der Staat handelt scheinbar wie der räuberische Samariter. Auch der Staat nimmt einigen Untertanen ihr Hab und Gut, um es anderen Untertanen zu geben. Aber trägt der Staat auch die Verantwortung für seine Rechtsverletzungen? Wird er überhaupt von irgendjemandem zur Rechenschaft gezogen? Nein, das ist nicht der Fall, und hier liegt der große, alles entscheidende Unterschied zum privaten räuberischen Samariter. Diese Verantwortungslosigkeit ist es, die sich wie ein roter Faden durch die staatliche Sozialfürsorge zieht und die bekannten negativen Begleiterscheinungen hervorruft: Zum einen ist die staatliche Fürsorge ethisch völlig nichtig. Was kann man sich auch darauf zugute halten, anderen Menschen mit dem Geld Dritter zu helfen? Moralisches Handeln und wirkliche Solidarität setzen unabdingbar voraus, daß man mit seinem eigenen Eigentum dafür geradesteht. Zum anderen ist die staatliche Fürsorge wahllos und fordert das Schmarotzertum geradezu heraus. Denn nur wer mit seinem eigenen Eigentum Hilfe leistet oder eventuell in privater Verantwortung das Eigentum anderer verletzt, überlegt es sich genau, für wen oder was er das tut. Sobald diese Verantwortung fehlt, wird die sogenannte Hilfe wahllos. Jedem kann schließlich geholfen werden, wenn es den „Helfer” nichts kostet. Aus dem gleichen Grunde sind die Angehörigen des Staatsapparates in der Vergabe der Wohltaten nicht nur wahl-, sondern auch maßlos. Eine Hilfe reiht sich an die andere, und der Erfindung und Umsetzung immer neuer, „dringend erforderlicher” Sozialprogramme (letztes Beispiel: Pflegeversicherung) ist keine Grenze gesetzt.

Die Produktion von Wohlfahrtsdiensten braucht keinen Staat.(5) Ein freies und blühendes Land braucht keine staatlichen Hilfen, sondern zupackende und verantwortungsvolle Bürger.

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(1) Außer für die Umverteilung wird der Staat vor allem bei der Erfüllung „hoheitlicher Aufgaben” (d.h. bei der Produktion von Sicherheit) und zur Lenkung der Wirtschaft als unerläßlich angesehen. Zur Kritik des Staates als Produzent von Sicherheit vgl. den bahnbrechenden Artikel von Gustave de Molinari, „Die Produktion von Sicherheit”, der im vorliegenden Band erstmals in deutscher Sprache vorliegt; s. insbesondere Murray N. Rothbard, Power and Market, 2. Aufl., Kansas City, 1977, Kap. 1; ders., For A New Liberty, 2. Aufl., San Francisco, 1978, Kap. 12; sowie Hans-Hermann Hoppe, Eigentum, Anarchie und Staat, Opladen, 1987, S.106ff. Unter deutschen Autoren siehe auch Detmar Doering, „Recht durch Markt”, in: ders., F. Fliszar, Hg., Freiheit: die unbequeme Idee, Stuttgart, 1995, S.165ff; Stefan Blankertz, „Eingreifen statt Übergreifen”, ibid., S.176ff.- Zur Kritik des Staates als Wirtschaftslenker siehe Jean-Baptiste Say, Traité d’économie politique, 6. Aufl., Genf, 1982 1841; Ludwig von Mises, Nationalökonomie, München, 1980 1940; M. N. Rothbard, Man, Economy, and State, 3. Aufl., Auburn/Al., 1993; ders., Power and Market, a.a.O.; Henry Hazlitt, Economics in One Lesson, New York, 1961; George Reisman, The Government Against the Economy, Ottawa/Ill., 1979.

(2) Vgl. Ricardo, Principles, Kap. 7 „On Foreign Trade”, Fußnote; Mises, Nationalökonomie, S.126ff.

(3) Vgl. die unübertroffenen Darlegungen von Frédéric Bastiat, „La loi”, in: idem, Oeuvres économiques, Paris, 1982.

(4) Vgl. hierzu Arthur Seldon, Hg., Re-Privatising Welfare: After the Lost Century, Institute for Economic Affairs, London, 1996, und die dort angegebene Literatur.

(5) Diese Aussage läßt sich auf alle sogenannten „öffentlichen Güter”verallgemeinern. Eine brilliante Darlegung des staatlichen Versagens bei der Produktion öffentlicher Güter findet sich bei J.R. Hummel, „National Goods Versus Public Goods: Defense, Disarmament, and Free Riders”, in The Review of Austrian Economics, Bd. 4, 1990, S.88ff. Hierzu und desweiteren zur Begründung der Zweckmäßigkeit und Sittlichkeit einer staatsfreien Gesellschaft vgl. die in Fußnote1 genannten Werke sowie Herbert Spencer, Social Statics, 1. Aufl., New York, 1985 1851; Rothbard, The Ethics of Liberty, Atlantic Highlands, 1980; Hoppe, A Theory of Socialism and Capitalism, Boston, 1989; ders., The Economics and Ethics of Private Property, Boston, 1993.