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Naturrecht und Liberalismus (1998)

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Quelle: Eigentümlich Frei Nr. 4, 4. Quartal 1998, S. 122

Von allen Ideen, die für den Liberalismus grundlegend sind, wird heute kaum eine so heftig angefeindet wie die des Naturrechts. Die Vorstellung, daß es natürliches Recht gibt, wird als mittelalterlich, intolerant, scholastisch, totalitär, unwissenschaftlich usw. angesehen. Diese ablehnende Haltung herrscht nicht nur unter den Staatsfans vor, sondern wird auch von den meisten Liberalen geteilt. Doch weder die einen noch die anderen haben gewöhnlich eine richtige Vorstellung davon, was mit Naturrecht eigentlich gemeint ist, und kaum einer versteht, wie eng der Zusammenhang zwischen Naturrecht und Liberalismus ist. Im folgenden werde ich daher die Idee des Naturrechts und ihre praktische und theoretische Bedeutung für eine freie Gesellschaft darlegen. Anschließend erfolgt eine Kritik der – heute vorherrschenden – alternativen Lehren auf diesem Gebiet.

Die Grundidee des Naturrechts besagt nichts weiter als das: Was recht und unrecht ist, hängt nicht von der menschlichen Willkür ab, sondern bestimmt sich nach objektiven („natürlichen“) Sachverhalten, die die menschliche Vernunft ergründen kann. Wenn ich beispielsweise einen Menschen, der mir nichts getan hat, ohne sein Einverständnis töte, so ist diese Handlung unrecht, und zwar völlig unabhängig davon, ob ich gerne hätte, daß sie recht sei. Ich mag alle anderen Menschen von der Richtigkeit meines Tuns überzeugen. Ich mag eine Abstimmung organisieren, in der mir alle beipflichten. Dennoch ist meine Tat unrecht. Sie ist unrecht, auch wenn alle Menschen meinen oder phantasiseren, sie sei recht.

Diese Grundidee ist nicht nur einfach und einleuchtend, sie reicht auch weit über das Feld des Rechts hinaus. Jedes menschliche Tätigsein hängt von Bedingungen ab und bezieht sich auf Dinge, die vom Willen des Handelnden verschieden sind. Wer die Dame seines Herzens erobern will, ist sich von vorneherein darüber im Klaren, daß der bloße Wunsch, sie wäre sein, keineswegs ausreicht. Die Dame hat ihren eigenen Willen, und dieser ist für unseren Herzensbrecher eine objektive Realität, an die er seine subjektiven Vorstellungen anpassen muß, um erfolgreich zu sein. Die bloße Tatsache, daß er nicht im dunklen Kämmerlein herumphantasiert, sondern etwas unternimmt, um sein Ziel zu erreichen, beweist, daß er diese objektive Realität anerkennt. Genauso steht es mit dem erfolgreichen Unternehmer. Auch er erzielt seinen Erfolg nicht durch bloßes Wünschen, sondern indem er sein Handeln den Wünschen der Kunden anpaßt. Für ihn sind diese Wünsche anderer Menschen objektive Faktoren, die für sein Einkommen entscheidend sind.

Aber auch Kunst und Wissenschaft sind Erscheinungen, die es ohne eine zugrundeliegende objektive Realität nicht geben könnte. Jeder Künstler muß von vorneherein davon ausgehen, daß es soetwas wie objektive Maßstäbe in der Kunst gibt. Denn andernfalls bedürfte es keiner besonderen Anstrengungen, um irgendeiner Idee einen künstlerischen Ausdruck zu verleihen. Jedes Gekleckse und Geklimpere wäre dann „Kunst“. Ganz ähnlich stellt der Naturforscher Hypothesen über eine von ihm unabhängige Wirklichkeit auf und findet diese Hypothesen anhand von Beobachtungen bestätigt oder widerlegt. Die Richtigkeit seiner Theorie hängt nicht davon ab, ob er wünscht, sie sei richtig, sondern ob sie richtig oder falsch ist. Nur deshalb beobachtet er die Natur und begnügt sich nicht mit seinen Spekulationen im Elfenbeinturm. Und auch Ökonomen müssen sich zur Erklärung von Marktpreisen auf objektive Sachverhalte stützen. Nicht die Tatsache, daß Wertungen subjektiv sind, sondern daß die Wertungen jedes Individuums unabhängig von den Wertungen aller anderen Marktteilnehmer sind, ist die eigentliche Grundlage der Preistheorie. Diese Individualität des Wertens prägt zwischenmenschliches Handeln in einer gesetzmäßigen (d.h. objektiven) Weise, die von der Wissenschaft untersucht werden kann. Wenn ich etwa weniger Bananen nachfrage, dann ist der Bananenpreis geringer als er sonst gewesen wäre – unabhängig davon, ob ich das wünsche oder nicht. Wenn die Wirkungen des Handelns nur von den Wünschen der Handelnden abhängen würden, gäbe es keine Ökonomie.

In all diesen Fällen würde wahrscheinlich kaum jemand bestreiten, daß dem menschlichen Handeln objektive Grenzen gesetzt sind, an die es sich anpassen muß, um erfolgreich zu sein. Doch wenn es darum geht, Regeln für menschliche Gesellschaften aufzustellen, wird eine Ausnahme von dieser allgemeinen Regel gesehen. Die Annahme, daß Recht und Unrecht nicht von der menschlichen Willkür abhängen – daß sie objektive Gegebenheiten und nicht mehr oder weniger subjektive Festlegungen sind – scheint dann unerträglich zu sein. Wir können uns an dieser Stelle nicht näher mit den psychologischen Ursachen dieser Tatsache befassen. Daß die Staatsfans die Gesellschaft gerne nach ihrem persönlichem Gusto formen möchten und ihnen die Idee des Naturrechts daher ein Greuel ist, läßt sich leicht verstehen. Aber es ist weniger leicht zu verstehen, warum auch viele Liberale diese Idee rundweg ablehnen. Tatsache ist jedenfalls, daß dies heute so ist, und daher wollen wir diesen Zweiflern nun ein wenig zu denken geben.

Zunächst einmal sollten wir unseren gesunden Menschenverstand zu Wort kommen lassen. Will irgendjemand ernsthaft behaupten, daß Mord, Raub, Vergewaltigung usw. keine Verbrechen sind? Man mag in bestimmten Fällen Zweifel hegen, ob ein Mord oder ein Raub vorliegt (auf dieses Problem kommen wir noch zurück). Aber daß es soetwas wie Verbrechen gibt und daß Verbrechen nicht durch Vereinbarung und Schönrednerei aus der Welt geschaffen werden können – mit anderen Worten, daß Verbrechen eine Sache objektiver Tatbestände sind – wird kaum jemand bestreiten, der seine fünf Sinne noch beisammen hat. Keine Zivilisation hat je existiert, in der die oben genannten Verbrechen nicht unterdrückt oder nur in stark ritualisierter Form (man denke etwa an die aztekischen Menschenopfer oder an die moderne Steuererhebung) ausgeübt wurden. Wo käme man auch hin, wenn jeder – wie der Oberpriester – anderen Leuten gegen deren Willen die Leber herausschneiden dürfte? Oder wenn jeder seine Mitmenschen ohne deren Einwilligung „besteuern“ dürfte, wie Regierungen es tun? Oder wenn eine Mehrheit in der Gesellschaft sich zusammentäte, um „festzulegen“, daß Raub nicht mehr Raub und Mord nicht mehr Mord ist, sondern eigentlich ganz o.k.? Genau diese Fragen stellt sich jeder, der noch ein bißchen Resthirn hat, und die unweigerliche Antwort lautet: Man schüfe damit eine Welt, die noch chaotischer, brutaler und grauenhafter wäre als die gegenwärtige. Ein bißchen Nachdenken führt somit wie von selbst zu dem Schluß, daß Recht und Unrecht nicht einfach eine Sache der Festlegung sind, sondern daß hier bestimmte von unserer Willkür unabhängige (daher „objektive“ oder „naturgegebene“) Tatbestände eine Rolle spielen. Es ist richtig, daß im Aztekenreich Menschenopfer an der Tagesordnung waren und nicht als Verbrechen angesehen wurden. Doch daraus kann man eben nicht ableiten, daß Recht eine Sache der Vereinbarung und mithin eine rein subjektive Angelegenheit ist. Wenn Menschen in der Horde ein Verbrechen begehen, so bleibt es doch ein Verbrechen – unabhängig davon, wie die Beteiligten über ihre Tat denken.

Die obige Begründung der Annahme, daß es soetwas wie Naturrecht geben muß, ist keineswegs nur graue Theorie, sondern wird auch durch die tägliche Praxis der Juristen bestätigt. Richter und Anwälte mögen die verschiedensten Vorstellungen von Recht und Unrecht haben, sie mögen Anhänger des Naturrechts sein oder glauben, daß alles, was das Parlament beschließt, Recht ist. Aber sobald sie den Gerichtssaal betreten und über einen Fall verhandeln, gehen sie alle davon aus, daß sie sich anhand objektiver Kriterien einigen können. Es wäre sinnlos, eine Person vor Gericht anzuklagen oder zu verteidigen, wenn man annähme, daß der Richter nur nach eigenem Gutdünken entscheidet. Nur die Annahme, daß es objektive Gesichtspunkte gibt, nach denen sich der Fall entscheiden läßt, macht ein Auftreten der Anwälte sinnvoll. Und auch wenn die Parteien nach dem Gerichtstag in dem Bewußtsein auseinandergehen, daß sie sich nicht haben einigen können, gehen sie stillschweigend davon aus, daß es etwas gibt, worüber keine Einigung erzielt werden konnte.

Diese einfachen Überlegungen reichen natürlich noch nicht aus, um eine liberale (oder irgendeine andere) Sozialphilosophie zu begründen. Aber sie zeigen doch wenigstens eines: daß die Verfechter des Naturrechts nicht völlig falsch liegen können. Es scheint irgendwelche naturgegebene Sachverhalte geben zu müssen, auf die man sich stützen muß, wenn von Recht und Unrecht die Rede ist. Aber welche? Aus welchen objektiven Gegebenheiten lassen sich welche Rechte ableiten?

Die Antwort, die der moderne Liberalismus darauf gibt, beruht auf den bahnbrechenden Arbeiten von Murray N. Rothbard und Hans-Hermann Hoppe. Diese Antwort geht von der Einsicht aus, daß man alle Rechte in Form einer Argumentation vertreten können muß. Denn zum einen gibt es keinen Gedanken, von dem sich sagen ließe, daß er nicht in Worten ausgedrückt werden kann. Und zum anderen würde es uns bei der Gestaltung unserer Gesellschaft auch nichts helfen, wenn wir zwar wüßten, was recht ist, dieses aber unseren Mitmenschen nicht sagen könnten. Nun setzt aber jede Argumentation voraus, daß der Argumentierende ein Selbstbesitzer ist (denn sonst gäbe es kein handelndes Ich, das irgendein Argument vorbringen könnte), und jedes Gespräch beruht auf der gegenseitigen Anerkennung des Selbstbesitzes, den jeder Gesprächspartner an sich selber hat. Denn ich kann nur dann ohne inneren Widerspruch glauben, daß ich „argumentiere“ oder „ein Gespräch führe“, wenn ich von vorneherein nicht nur unterstelle, sondern auch anerkenne, daß mein Gegenüber die Möglichkeit hat, sich meiner Argumentation anzuschließen oder sie abzulehnen. Doch das heißt nichts anderes, als daß jeder Diskutierende von vorneherein unterstellt, daß es ein Recht auf Privateigentum gibt, dessen Kern im Selbstbesitz eines jeden an sich und seinem Körper besteht. Jeder, der mir sagt „dies und das sind Deine Rechte“, setzt bereits voraus, daß ich ein privates Eigentum an mir selbst habe. Niemand kann die Aussage „es gibt individuelles Eigentum, und jeder Mensch ist ein Selbstbesitzer“ bestreiten, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln. Wenn jemand behauptet, es gebe kein Privateigentum, so wirft das sofort die Frage auf: „Was ist das Wesen dieser Äußerung?“ Entweder handelt es sich um eine Aussage eines selbständig über sein Denken verfügenden Menschen A, der sich an einen anderen Menschen B richtet, wobei A anerkennt, daß B über sein eigenes Denken verfügt. Dann aber liegt in der Aussage A‘s ein Selbstwiderspruch. Oder es handelt sich gar nicht um eine Aussage, sondern nur um ein sinnloses Geräusch wie „boh“, „häh“ o.ä. Dann deckt die Äußerung von A auch keinen objektiven Sachverhalt auf, der B in irgendeiner Form zur Anerkennung eines Rechts verpflichten könnte. Hingegen beschreibt der Satz „es gibt individuelles bzw. privates Eigentum“ einen Sachverhalt, der sich gerade dadurch als objektiv und allgemeinverbindlich erweist, daß jeder ihn anerkennt bzw. voraussetzt, der auch nur Regeln für die einfachste Form gesellschaftlichen Verkehrs aufstellen will.

Aus liberaler Sicht ist somit jeder Mensch ein Eigentümer, denn jeder ist zumindest Eigentümer seiner selbst. Jeder tritt als Selbstbesitzer seines eigenen Körpers in die Welt, und unter Gebrauch dieses seines Körpers kann er sich andere physische Dinge rechtmäßig aneignen. So hat er insbesondere das Recht, herrenlose Dinge in seinen Besitz zu bringen, indem er als erster „seine Arbeit mit ihnen mischt“ (Locke). Aus diesem Recht des Erstbesitzes lassen sich – in Verbindung mit dem Recht auf Selbstbesitz – alle anderen Rechte ableiten. Jeder Mensch hat das Recht, das Eigentum anderer Menschen zu erwerben, indem er es gegen Teile seines Eigentums (z.B. zehn Stunden seiner Arbeit) tauscht. Jeder hat das Recht, sein Eigentum zu verändern, um es in einen neuen, für ihn persönlich wertvolleren Zustand zu bringen. Diese individuellen Rechte sind eine objektive Realität. Jedes Individuum erkennt sie zwangsläufig an, wenn es mit anderen Menschen in irgendeine Form gesellschaftlichen Verkehrs tritt. Und auch alle anderen Rechte lassen sich auf diese Weise aus dem Privateigentum ableiten. Rechtmäßiges Handeln ist dadurch definiert, daß es das Eigentum anderer Menschen respektiert, während bei unrechten Handlungen das Eigentum anderer verletzt wird.

Was rechtmäßig ist und was nicht, kann mithin anhand eines rationalen Kriteriums bestimmt werden. Es ist leicht zu sehen, daß alle unstrittigen Verbrechen (Mord, Raub, Vergewaltigung usw.) Verletzungen von Eigentum darstellen. Der Mörder von X verändert den Körper von X in ihner von X nicht genehmigten Weise. Der Dieb meiner Brieftasche ergreift einen Teil meines Eigentums usw. Aber auch verwickeltere Fälle lassen sich leicht anhand dieser Richtschnur lösen. Niemand hat etwa das Recht, mir eine Ohrfeige zu geben – aber nicht deshalb, weil er damit meine Menschenwürde beschädigt, sondern weil er mein Eigentum an meinem Körper verletzt. Niemand hat das Recht, mit Steuergeldern unterhalten zu werden („Sozialhilfe“) – aber nicht, weil nur Faulpelze Sozialhilfe in Anspruch nehmen und diese Art der Unterstützung somit ineffizient ist, sondern weil das Eintreiben von Steuern eine Eigentumsverletzung bedeutet. Niemand hat das Recht, sich überall ungehindert zu äußern („Redefreiheit“) – sonst hätte jeder auch die Redefreiheit, sich nachts um halb zwei im Schlafzimmer seines Nachbarn uneingeladen über die deutsche Außenpolitik zu äußern. Dagegen hat jeder beispielsweise das Recht, einen Saal zu mieten und zu den Leuten zu sprechen, die sich dort einfinden.

Recht und Unrecht finden aus liberaler Sicht also einen objektiven Standard im privaten Eigentum. Nun ist es aber keineswegs immer sofort offensichtlich, wem was gehört. Wenn wir beobachten, wie Peter dem Paul auf der Straße die Brieftasche wegnimmt, so können wir aus dieser Beobachtung alleine noch nicht folgern, daß es sich um einen Diebstahl handelt. Peter könnte sich auch einfach nur etwas wiederbeschaffen, was Paul ihm zuvor entwendet hat. Man muß den Fall also etwas genauer betrachten und z.B. untersuchen, wer die Brieftasche in der Vergangenheit auf welche Weise erworben hat. Ähnliche Fragen tauchen immer dann auf, wenn Menschen mit neuen Problemen konfrontiert werden, wie etwa in jüngerer Zeit im Bereich des Umweltschutzes. Auf die Frage, wieviel Abgas eine bestimmte Fabrik emittieren darf, gibt es bekanntermaßen mindestens genauso viele verschiedene Antworten wie beim Streit um die Brieftasche. Peter behauptet, die Brieftasche sei die seine, und Paul sagt das Gegenteil. Der Fabrikbesitzer pocht auf ein unbeschränktes Emittierungsrecht, während die Anwohner ganz anderer Meinung sind. Solche Konflikte prägen jede reale menschliche Gesellschaft. Sie lassen uns verstehen, warum es Richter und Anwälte gibt und weshalb man zuweilen auch Polizei und Armeen braucht.

Aber viele Menschen sehen in der Existenz solcher Konflikte einen Mangel des Naturrechtsgedankens. Sie argumentieren etwa wie folgt: „Die Fürsprecher des Naturrechts sind sich noch nicht einmal untereinander darüber einig, was Naturrecht eigentlich ist. Folglich ist es nicht die Natur selber, die uns zeigt, was recht und was unrecht ist. Die Idee des Naturrechts ist somit widersprüchlich und falsch.“ Der Fehler in dieser Argumentation entspringt der irrigen Annahme, daß es soetwas wie Naturrecht nur dann geben kann, wenn Menschen es auch ohne Mühen erkennen können. Doch der Kerngedanke des Naturrechts ist eben nicht, daß uns die Natur selber sagt, was wir zu tun haben. Der Kerngedanke ist noch nicht einmal, daß dieses oder jenes Recht ein Naturrecht ist. Die entscheidende Idee ist sehr viel elementarer: daß Recht und Unrecht nicht von der menschlichen Willkür abhängen, sondern sich in einer vom menschlichen Willen verschiedenen (objektiven) Realität erweisen.

Die Natur nimmt uns aber nicht die Arbeit ab. Wir müssen uns schon selber bemühen und Fall für Fall prüfen, was recht und unrecht ist. Daß dabei mehr oder weniger ausgeprägte Meinungsverschiedenheiten entstehen, sollte eigentlich niemanden überraschen. Vielmehr sind unterschiedliche Ansichten der Regelfall, wenn Menschen nach Lösungen für ihre Probleme suchen. Es gab und gibt beispielsweise eine Vielzahl konkurrierender Theorien in den Naturwissenschaften. Doch kaum jemand hat aus diesem Sachverhalt gefolgert, daß es keine Naturgesetze gibt, die man mit Hilfe des gesunden Menschenverstandes entdecken könnte. Wenn jemand die Existenz von Naturgesetzen verneint, weil zehn Physiker zehn verschiedene Ansichten darüber haben, was die Naturgesetze sind, so wird er mitleidig belächelt. Wenn aber jemand behauptet, der Streit unter Naturrechtlern zeige die Unhaltbarkeit dieser Idee, dann lobt man seinen Scharfsinn.

Die Existenz verschiedener Ansichten darüber, was Naturrecht ist, stellt also kein besonderes Problem für die Naturrechtslehre dar. Vielmehr zeigt dieser Wettstreit der Meinungen, wie groß die Harmonie zwischen Naturrecht und Liberalismus ist. Kein Liberaler würde fordern, daß alle Autos nach dem gleichen Schema gebaut werden. Warum sollten Liberale dann fordern, daß alle Anwälte und Richter der gleichen Ansicht sein sollten? Wer die Freiheit liebt, tut dies schließlich auch in dem Bewußtsein, daß der Wettbewerb zwischen den verschiedenen Produzenten über kurz oder lang zur Auslese der besten Produkte führt. Welcher Grund spricht gegen die Annahme, daß dies ausgerechnet im Bereich der Gerichtsdienstleistungen anders sein sollte? Müssen wir nicht gerade hier annehmen, daß langfristig nur solche Richter und Anwälte beauftragt werden, die für ihre Unbestechlichkeit, Sorgfältigkeit, Sachkenntnis und Schnelligkeit bekannt sind? Mit einem Wort lassen sich Naturrecht und Meinungsvielfalt nicht nur miteinander vereinbaren, sondern sind wie füreinander gemacht. Das macht die Idee des Naturrechts besonders geeignet als Grundlage einer freien Gesellschaft.

Vielen ist diese Meinungsvielfalt allerdings nicht geheuer. Muß es nicht ständig zu Mord und Totschlag kommen, wenn jeder etwas anderes als Naturrecht ansieht? Es ist in der Tat nicht auszuschließen, daß es in einer freien Gesellschaft unter Anhängern des Naturrechtsgedankens zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt. Aber das geschieht dann nicht weil, sondern obwohl sie dem Naturrecht anhängen. Denn wenn Recht und Unrecht von objektiven Faktoren abhängen, so muß eine Einigung über die Streitfrage zumindest vom Prinzip her möglich sein. Wer an Naturrecht glaubt, wird daher eine friedliche Konfliktlösung weder für unmöglich halten noch wird er sie von vorneherein ablehnen. Er ist ja davon überzeugt, daß sich die Überlegenheit seiner Ansicht auf argumentativem Wege „objektiv“ beweisen läßt. Dagegen führt die entgegengesetzte Auffassung – daß es überhaupt kein natürliches Recht gibt – geradezu zwangsläufig zur Gewalt. Denn wenn eine Einigung über die objektive Sachlage unmöglich ist, weil eine solche allgemeinverbindliche Sachlage garnicht existiert, dann ist es auch sinnlos, das friedliche Mittel der Argumentation einzusetzen. Jeder sieht dann zu, daß er sich „sein Recht“ gewaltsam verschafft. Nur die Annahme, daß es natürliches Recht gibt, kann mithin die Grundlage einer freien Gesellschaft bilden – einer rationalen Gesellschaftsordnung, in der dauerhaft friedliches Zusammenleben und Arbeitsteilung möglich sind.

Es gibt natürlich auch Staatsfans unter den Fürsprechern des Naturrechts. Diese Leute haben das Naturrecht in den Ruf gebracht, ein Mittel zur Verwirklichung von Allmachtsphantasien zu sein. Typischerweise argumentieren sie wie folgt: „Menschen haben Anspruch auf Sozialhilfe, weil Überleben ein Naturrecht ist.“ oder „Stahlproduzenten haben einen Anspruch auf Subventionen, weil die Ausübung des eigenen Berufs ein Naturrecht ist.“ In allen diesen Fällen ist die Berufung auf das Naturrecht nichts weiter als ein rhethorischer Trick. Es wird nicht auf objektive Sachverhalte verwiesen, aus denen sich das behauptete Recht ableiten läßt, sondern das Wort „Naturrecht“ wird als Fetisch zur Einschüchterung des Gesprächspartners gebraucht – genau wie man auch eine Vogelscheuche einsetzt. Man kann sich vor solchen Tricksereien nur schützen, indem man zwei Fragen auseinanderhält: a) die allgemeine Frage, ob Recht von seinem Wesen her Naturrecht ist, und b) die konkrete Frage, ob ein bestimmtes „Recht“ überhaupt ein Recht ist. Die erste Frage haben wir bereits bejaht, und in diesem allgemeinen Sinn stimmen wir mit allen Fürsprechern des Naturrechts überein. Doch das reicht zur Beantwortung von Frage b) noch nicht aus. Es genügt nicht, zu wissen, daß sich jedes Recht aus naturgegebenen Sachverhalten, die von unserer Willkür verschieden sind, ableiten lassen muß. Vielmehr müssen wir in jedem Einzelfall auch zeigen, aus welchem Sachverhalt wir ein Recht ableiten und warum dieser Sachverhalt für die Beteiligten verbindlich ist. Dazu reicht die bloße Behauptung, ein bestimmtes Recht sei Naturrecht, keineswegs aus.

Ähnlich verhält es sich mit Äußerungen, in denen auf den göttlichen Ursprung des Naturrechts verwiesen wird (z.B. „Stahlproduzenten haben einen Anspruch auf Subventionen, weil die Ausübung des eigenen Berufs ein gottgegebenes Naturrecht ist.“). Es steht für den Gläubigen außer Zweifel, daß alle Dinge der Natur – und so auch das Recht – vom lieben Gott geschaffen wurden. Aber diese Gewißheit löst keineswegs bereits das Problem, das sich hier stellt. Sie entbindet uns nicht von der Aufgabe, in jedem Einzelfall unter Gebrauch unserer gottgegebenen Vernunft zu prüfen, ob ein behauptetes Recht auch ein wirkliches Recht ist.

Die Idee des Naturrechts bereitet aber nicht nur deshalb Unbehagen, weil es auch staatsorientierte Naturrechtslehren gibt. Einige Liberale stören sich bereits daran, daß der Liberalismus überhaupt etwas mit unveränderlichen natürlichen Grundsätzen zu tun haben sollte. Sie glauben, daß eine freie Gesellschaft sich allein auf individueller Freiheit gründe und daß keine besondere Ausübung dieser Freiheit notwendig sei, damit von einer Gesellschaft die Rede sein kann. Sie glauben nicht, daß es allgemeingültige Grundsätze gibt, nach denen jede Gesellschaft geordnet sein muß. Daher graut Ihnen vor dem Gedanken, daß Liberale die von ihnen erkannten Grundsätze als die Wahrheit ansehen, ganz intolerant auf der Wahrheit bestehen und andere Menschen mit der Wahrheit missionieren. Die Haltung dieser relativistischen Liberalen ist natürlich widersprüchlich, da sie zumindest die Freiheit als einen absoluten Grundsatz ansehen und – wenn sie überhaupt irgendetwas in dieser Welt bewegen wollen – dogmatisch vertreten müssen. Und wie wollen sie das tun, ohne allgemeinverbindliche („objektive“) Gründe anzuführen? Vor allem aber widerspricht ihre Auffassung der unumstößlichen Tatsache, daß keine Gesellschaft auf allgemeinem Mord und Totschlag zu gründen ist. Die Frage ist nicht, ob es Grundsätze der gesellschaftlichen Ordnung gibt, sondern welche Grundsätze das sind. Und zur Beantwortung dieser Frage hilft es nicht, den Kopf in den wohlig warmen Sand der Erkenntnis zu stecken, daß der Mensch frei ist.

Kommen wir nun kurz auf zwei alternative Rechtsphilosophien zu sprechen: auf den Rechtspositivismus und auf den Kontraktualismus. Der Rechtspositivismus ist die heute vorherrschende Philosophie und wird in zwei Varianten vertreten. Nach der radikaleren Variante ist alles Recht, was die Regierung beschließt, wobei es unerheblich ist, ob mit Regierung ein Priester, ein König oder ein Parlament gemeint ist. Mit anderen Worten wird hier unterstellt, daß jede Gesellschaft beliebig formbar ist. Es gibt keine Eigengesetzlichkeit menschlichen Zusammenlebens, die ein weiser Herrscher tunlichst anerkennen sollte. Sein Wille ist Gesetz, getreu der Auffassung des Sonnenkönigs: l‘Etat c‘est moi. Wir haben die wesentlichen Kritikpunkte an dieser Auffassung bereits geäußert: Sie wiederspricht dem gesunden Menschenverstand, der uns sagt, daß keine Gesellschaft auf wahllosem Mord und Totschlag gegründet werden kann (das aber müßte möglich sein, wenn wirklich nur der Wille des Herrschers über Recht und Unrecht entscheidet). Sie führt zu Mord und Totschlag, weil sie die Möglichkeit einer friedlichen und rationalen Einigung durch Argumente von vorneherein ausschließt. Und sie ist unvereinbar mit dem Ideal einer freien Gesellschaft, da sich mit ihrer Hilfe jede Art der Gewaltherrschaft rechtfertigen läßt.

In seiner abgeschwächten Variante gesteht der Rechtspositivismus zu, daß es objektive Maßstäbe für Recht und Unrecht geben mag. Doch sei der Staat die einzige Instanz, die die Berechtigung bzw. die Befähigung habe, im einzelnen darüber zu entscheiden, was recht und was unrecht ist. Dieser Rechtspositivismus teilt somit die Grundidee des Naturrechts, daß es soetwas wie objektives bzw. natürliches Recht gibt. Er behauptet lediglich, daß eine bestimmte Organisationsform (der Staat) besonders geeignet sei, dieses natürliche Recht zu identifizieren und durchzusetzen. Aber selbst in dieser abgeschwächten Form läßt sich der Rechtspositivismus nicht aufrechterhalten. Denn zum einen unterstellt er, daß Regierungsangehörige intelligenter und motivierter sind als andere Menschen (sonst wäre nicht einzusehen, warum sie natürliches Recht besser zu erkennen in der Lage wären). Und zum anderen ist es von vorneherein unmöglich, daß ein Staat (der als einziger diejenigen Rechte, die er schützen soll, verletzen darf) die Rechte der Gesellschaftsmitglieder besser schützen kann als private Organisationen. Der Staat verletzt notwendig irgendwelche Rechte, während eine Rechtsverletzung durch private Organisationen lediglich eine Möglichkeit ist.

Wenden wir uns nun abschließend dem Kontraktualismus zu. Die Vertreter dieser Lehre behaupten, daß es überflüssig sei, sich irgendwelche Gedanken um natürliche Rechte zu machen. Man brauche es einfach nur den Individuen zu überlassen, in freiwilligen Übereinkünften zu bestimmen, wem was gehört. Verträge, nicht natürliches Recht, seien daher die Grundlage einer freien Gesellschaft.

Diese Theorie ist jedoch unzureichend und läuft in der Praxis auf eine bloße Rechtfertigung des Status quo hinaus. Der Kontraktualismus ist unzureichend, weil er keine Begründung dafür liefert, warum individuelle Übereinkünfte die Verteilung knapper Ressourcen in einer Gesellschaft regeln sollen. Welcher Grund spricht dagegen, einen Diktator mit dieser Aufgabe zu betreuen? Die liberale Naturrechtslehre beantwortet diese Frage damit, daß sich nur die Institution des Privateigentums widerspruchsfrei begründen läßt. Und sie leitet das Recht zu und die Verbindlichkeit von Verträgen aus dem Recht auf Privateigentum ab, nicht umgekehrt.

Überhaupt ist der Kontraktualismus nicht besonders eng mit dem Liberalismus verwandt, sondern kann auch jeder Gewaltherrschaft als Grundlage dienen. Es ist ein Irrglaube, daß freie Übereinkünfte an sich bereits eine freie Gesellschaft ausmachen, denn die Frage ist, wer über welche Güter (in seinen Vereinbarungen und anderen Handlungen) verfügen darf. Was will man etwa einem Vergewaltiger vom Standpunkt des Kontraktualismus entgegenhalten? Daß er den Körper seines Opfers ohne dessen Einverständnis gebraucht habe? Doch darauf könnte er antworten: „Dieser Körper gehörte mir schon, und ich brauche wohl kaum das Einverständnis anderer Leute, wenn ich entscheide, was ich mit meinem Eigentum mache.“ Dies entspricht genau der Argumentation der kontraktualistischen Staatsfans, denen zufolge dem Staat bereits all das gehört, was er sich in Form von Steuern und Zöllen usw. nimmt. Niemand darf daher dieses Eigentum ohne das Einverständnis des Staates für sich behalten! Und der Staat darf dieses Eigentum verkaufen, verpfänden, verschenken und sonstwie in „freien Übereinkünften“ darüber verfügen. Dieser Argumentation kann man nur begegnen, indem man ein objektives Kriterium einführt, anhand dessen sich bestimmen läßt, wer über was entscheiden darf und bei welchen Handlungen das Einverständnis welcher anderen Menschen erforderlich ist. Dieses Kriterium sieht der Naturrechtsliberalismus in dem durch Erstbesitz, Produktion und Tausch erworbenen privaten Eigentum.

Als Grundlage einer freien Gesellschaft ist der Kontraktualismus mithin nicht zu gebrauchen. Sein entscheidender Mangel ist, daß er eine vorgängige Verteilung privaten Eigentums nur voraussetzt, anstatt sie ihrerseits zu begründen. Man kann eben nur in bezug auf sein eigenes Eigentum Verträge schließen. Woraus entspringt aber dieses Eigentum? Der Kontraktualist kann nur antworten: aus früheren Verträgen. Doch dann stellt sich die Frage erneut: Woher kommt das Eigentum, über das in diesen früheren Verträgen verfügt wurde? Und so dringt man immer weiter zurück in die Vergangenheit, bis man an einen Punkt gelangt, an dem jemand nur über seinen Körper verfügte oder an dem er sich ein herrenloses Gut aneignete. Mit anderen Worten kommt selbst der Kontraktualist nicht an der Notwendigkeit vorbei, den Selbstbesitz und den Erstbesitz an äußeren Gütern zu begründen – was seiner Grundannahme widerspricht.

Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, daß der Kontraktualismus praktisch gesehen auf eine bloße Rechtfertigung der gegenwärtigen Güterverteilung hinausläuft. Wie gesehen läßt er sich nur dann anwenden, wenn man sich keine weiteren Fragen zur vorhandenen Güterverteilung stellt, sondern diese als unantastbar ansieht. Für Liberale kann diese Haltung nicht befriedigend sein. Soll wirklich allen Leuten, die sich ihr Eigentum in der Vergangenheit durch Gewalt verschafft haben, der ungestörte Gebrauch dieser Güter zugestanden werden? Sollen Betrüger und Steuereintreiber über ihr „Eigentum“ in Verträgen verfügen dürfen? Muß jeder diese Verträge anerkennen, anstatt die Rückgabe des Raubgutes zu verlangen? Der Naturrechtsliberalismus verneint diese Fragen. Und nur er kann auch die rationale Begründung für diese Verneinung liefern, da er alle Rechte (und somit alle Verträge) aus dem Recht auf Selbstbesitz und auf Erstbesitz ableitet. Der Liberalismus ist keine Rechtfertigung für Leute, die an ihrem durch Schurkereien erworbenen „Besitzstand“ festhalten wollen. Er ist eine revolutionäre Theorie, die die rationale Grundlage für eine freie Gesellschaft bildet.

Grundlegende Werke zum Thema Naturrecht und Liberalismus sind: