Home Kontakt Sitemap Impressum

Meinung

Welt-Textilabkommen (16.01.2005)
Straßenbaubeitragsgesetz (09.01.2005)
EU-Verfassungsvertrag (30.12.2004)
Neoprotektionismus (März 2004)
Ausbildungsplatzabgabe - Kampf der SPD mit der Realität (Feb. 2004)

EU-Verfassungsvertrag (30.12.2004)

Der EU-Verfassungsvertrag ist vorgelegt, und noch überlegen die Politiker (insbesondere die deutschen), ob das Volk über den Vertrag abstimmen darf. Dabei ist das Vertragswerk eine Chimäre. Denn nach Form und Inhalt ist der Vertrag nur scheinbar eine Verfassung. (Es ist anzunehmen, daß in dem Großteil der Medien-Berichterstattung die beiden Silben „-vertrag“ in der Regel unter den Tisch fallen.)    

Le Monde diplomatique (November 2004, S. 4, Beilage zur Taz vom 12.11.04) schreibt: „Obwohl sich mehrere der 460 Artikel unumwunden auf 'die Verfassung' beziehen, ohne daß das Wort 'Vertrag' noch vorkäme, und obwohl der Text, wie alle Verfassungen, eine 'Charta der Grundrechte' enthält, und die Rolle der EU-Institutionen präzisiert, ist er doch keine Verfassung. Denn obwohl er im Namen 'der Bürger und der Staaten Europas' abgefaßt wurde, bleibt er vor allem ein Abkommen zwischen Staaten, die der Union bestimmte Kompetenzen 'übertragen'. Im Vergleich dazu stellt sich die Bundesverfassung der USA als ein souveräner Akt des 'Volkes der Vereinigten Staaten' dar ('We, the People of the United States …'), dem die Bevölkerung aller Einzelstaaten zugestimmt hat.“    

Eine Verfassung ist der feierliche Gründungsakt, durch den eine politische Gemeinschaft ihre Werte definiert und das Verfahren seiner Rechtssetzung hinsichtlich der Gesetze, denen sie sich unterwirft, regelt. Eine Verfassung ist also eine konkrete Äußerung eines Staatsvolks. Von einer europäischen Verfassung zu sprechen, würde folglich bedeuten, daß sich alle 25 Mitgliedsstaaten und deren Völker als eine Schicksalsgemeinschaft definieren. Das ist aber in keiner Weise der Fall.   

Die EU verfügt nach diesem Vertrag auch nicht über die üblichen Kompetenzen eines Bundesstaats. Außenpolitik, Kriegführung und die Möglichkeit, international bindende Verträge abzuschließen (mit Ausnahme der Handelsbeziehungen), verbleiben bei den Mitgliedsstaaten.    

Der Vertrag enthält aber nicht nur – wie es einer politischen Verfassung ansteht – die Grundrechte und gibt Regeln für die Organisation der Staatsgewalt vor, sondern er macht auch Vorgaben zum Wirtschaftsmodell, indem er die Errichtung der „sozialen Marktwirtschaft“ auf der Basis eines „freien und unverfälschten Wettbewerbs“ anstrebt. Damit gerät der Vertrag in den Verdacht, „die Volkssouveränität kurzzuschließen und den wirtschaftlichen Neoliberalismus als politische Grundnorm zu etablieren“. (Le Monde diplomatique, Nov. 2004)   

Ein weiterer Scheideweg ist die Frage des Austritts aus dem Verfassungsvertrag Der Vertrag gesteht den Mitgliedsstaaten dieses Recht nämlich zu (das geht noch über die Frage hinaus, ob denn heute überhaupt noch ein Austritt aus der bestehenden EU mit seiner Unzahl von Teilverträgen möglich ist; vorgesehen ist dieser Fall jedenfalls nicht). Die Vertreter der „Volkssouveränität“ sehen darin ein weiteres Argument, warum es sich damit nicht um eine Verfassung – die sich ja eine „Schicksalsgemeinschaft“ gibt – handeln kann.(*) Sie befinden sich darin im Einklang mit den bekannten Theorien des Gesellschaftsvertrags, die diesen Fall ebenfalls nicht vorsehen.

Dabei stellt sich die Frage, warum in einer Verfassung kein Sezessionsrecht verankert sein sollte bzw. warum in einem Gesellschaftsvertrag keine Austrittsklausel enthalten sein sollte. Eine gegenteilige Theorie hat beispielsweise Fichte in seinen „Beiträgen zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution“ (1791) aufgestellt. Der Vergleich von Fichtes Theorie mit den anderen zeigt, daß diese annehmen müssen, daß sich nach der Konstituierung des Gemeinwesens durch den – durchweg fiktiven –Gesellschaftsvertrag ein Kollektiv gebildet hat, das in der Lage ist, dem Individuum die Regeln des Gemeinwesens vorzuschreiben bzw. ihm die Befolgung seiner Regeln aufzuzwingen – und zwar selbst dann, wenn es sich keiner Aggression gegenüber dem Gemeinwesen schuldig macht. Damit erweisen sie sich als antirationalistische und aggressive Konstruktionen.

Wenigstens hier scheint der Verfassungsvertrag also erst einmal individualistischer zu sein und die Regeln eines einvernehmlich geschlossenen Vertrags, nämlich bestimmte Bedingungen seiner Beendigung, zu erfüllen. Da dies jedoch nur den Mitgliedsstaaten, nicht aber seinen Bürgern zugestanden wird, beweist, daß es sich hier nicht um einen expliziten Gesellschaftsvertrag, der die einzelnen Bürger binden würde, handelt, sondern um einen Vertrag zwischen Staaten, die ihre Beziehungen untereinander regeln. Der Einzelne, der Bürger, das Individuum, bleibt wie immer außen vor.    

(*) Damit wird auch der Sezessionskrieg der Nord- gegen die Südstaaten der USA gerechtfertigt. – Interessant dürfte sein, daß die sowjetische und die jugoslawische Verfassung ein Austrittsrecht vorsahen; in Anspruch genommen wurde es nicht: jeder war sich über die Konsequenzen, die eine solche Forderung gehabt hätte, im Klaren.