Jörg Guido Hülsmann

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Mehr Sicherheit durch den Staat? (2000)

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Quelle: Eigentümlich Frei Nr. 9, 1. Quartal 2000, S. 299

Der Staat ist zuständig für die Produktion von Sicherheit. Wir brauchen staatliche Gerichte, staatliche Polizei und staatliche Armeen, um uns vor den Zugriffen innerer und äußerer Feinde zu schützen. Alle Sicherheitsproduzenten müssen in einer einzigen Organisation, dem Staat, eingebunden sein, und neben ihm darf es keine andere Sicherheitsorganisation geben, oder zumindest keine, die es mit ihm aufnehmen könnte. Kurz gesagt verlangt wahre Sicherheit, daß ein allgewaltiger Monopolist, der Leviathan-Staat, jede größere Gewalttat im Keim ersticken kann.

So oder so ähnlich läßt sich eine Auffassung formulieren, die die weitaus meisten Bürger aller Staaten als offenkundige Wahrheit ansehen. Wer sie in Frage stellt, wird zumeist als Wirrkopf belächelt und sorgt bestenfalls für ungewollte Unterhaltung bei seinen Gesprächspartnern und Lesern.

Im folgenden möchte ich darlegen, daß es Grund zur Heiterkeit auf allen Seiten gibt. Denn es ist in der Tat nicht minder lustig, daß soviele gescheite Leute vollkommen davon überzeugt sind, daß sich mit einer einfachen organisatorischen Maßnahme die Grundlagen unserer Zivilisation sichern ließen. Für die überwältigende Mehrheit unserer Mitbürger gibt es zur Bewältigung unserer Sicherheitsprobleme ein ebenso unkompliziertes wie sicheres Mittel: Alle Gewalt einer Monopolorganisation – dem Staat. Sicherheit in Deutschland erfordert einen deutschen Staat, Sicherheit in Europa verlangt einen Brüsseler Monopolisten, und Sicherheit in der ganzen Welt verlangt eine Weltregierung. Diese Ansicht hätte die alten Römer und Griechen sehr erheitert, und die meisten mittelalterlichen Feudalherren samt Gefolge hätten sich erst recht die wippenden Bäuche gehalten. Auch die Bürger der Stadt London, die bis ins 19. Jahrhundert hinein keine staatliche Polizei kannte, hätten dies lachend als eine der zahlreichen kontinentalen Verirrungen abgetan. Nur der moderne Staatsbürger weiß nicht so recht, was hier komisch sein soll. Die Notwendigkeit des staatlichen Leviathans ist ihm so offensichtlich wie die Richtigkeit des kleinen Einmaleins, und keines von beiden hält er für bemerkenswert oder gar witzig. Da wollen wir gerne nachhelfen.

Sicherheit und Unsicherheit

Zunächst wollen wir in aller Kürze darlegen, welche Dinge gemeint sind, wenn wir von „Sicherheit“ und seinem Gegenteil „Unsicherheit“ sprechen. Unter Sicherheit verstehen wir den ungestörten Besitz rechtmäßig erworbenen Eigentums, d.h. von Eigentum

  1. an der eigenen Person,
  2. an zuvor herrenlosen Dingen, die der Eigentümer durch sein Handeln umwandelt und dadurch „ersterwirbt“ – z.B. herrenloses Holz, das er aufsammelt,
  3. an Dingen, die der Eigentümer unter Aufwendung ersterworbener Güter und anderer Teile seines Eigentums (etwa seiner Arbeit) weiterverarbeitet – z.B. ein Tisch, den der aus zuvor aufgesammeltem Holz herstellt,
  4. an Dingen, die zuvor das rechtmäßige Eigentum anderer Personen waren und ihm von diesen – als Geschenk oder Tauschpreis – vermacht wurden.

Eine Störung des Besitzes an rechtmäßig erworbenen Dingen liegt immer dann vor, wenn eine dritte Person sich anschickt, diese Dinge ohne Einverständnis des gegenwärtigen Eigentümers in ihre Gewalt zu bringen (Enteignung) oder wenn eine solche dritte Person eine Enteignung androht. „Unsicherheit“ entspringt daraus, daß dieser Konflikt im Sinne des Enteigners entschieden werden könnte.

Diese Definitionen dürften hinreichend klar sein, und sie erfassen auch das, was die meisten Menschen, sofern sie nicht Mitglieder von Regierungen oder von soziologischen oder philosophischen Fakultäten sind, unter Sicherheit und Unsicherheit verstehen. Die Produktion von Sicherheit dient dem Schutz rechtmäßig erworbenen Eigentums, und alle Aktivitäten, die den Genuß solchen Eigentums beinträchtigen, bedeuten einen Unsicherheitsfaktor.

Allgemeine Quellen der Unsicherheit

Menschen können die oben dargelegten rechtmäßigen Anreignungsregeln entweder beachten oder sie können ihnen entgegen handeln. Entsprechend schaffen sie mehr oder weniger Sicherheit in ihrem gesellschaftlichen Zusammenleben. Warum handeln sie diesen Regeln überhaupt zuwider? Hier lassen sich drei Fälle unterscheiden.

Erstens gibt es einige Menschen, denen überhaupt nichts am Leben in Gesellschaft liegt und die ihre Mitmenschen im großen und ganzen als Beutetiere ansehen, wie etwa der Fuchs die Gänse. Mit dieser Spezies werden wir uns im folgenden nicht weiter befassen, da es uns nur um Fragen der Organisation von Gesellschaften geht.

Zweitens gibt es Menschen, die der Auffassung sind, daß die obigen Regeln keinesfalls unabdingbare Bestandteile der politischen Verfassung jeder menschlichen Gesellschaft sind, Regeln, die auch nur sehr beschränkt verletzt werden dürfen, ohne gesellschaftliches Leben überhaupt unmöglich zu machen. Es ist klar, daß eine Gesellschaft umso unsicherer werden muß, je mehr sie von Menschen dieses Schlages befallen wird. Wir können diese Quelle der Unsicherheit als politisch verursachte Unsicherheit bezeichnen.

Drittens sorgen bestimmte Eigenheiten der menschlichen Natur für Unsicherheit selbst in jenen Gesellschaften, in denen die rechtmäßigen Anreignungsregeln als grundlegend angesehen werden. Selbst in rein privatwirtschaftlichen Systemen ist ein gewissen Maß an Unsicherheit nicht zu vermeiden, welches aus intellektuellen Unzulänglichkeiten und aus moralischen Unzulänglichkeiten entspringt.

Die intellektuellen Unzulänglichkeiten des Menschen schaffen Unsicherheit, weil es in einigen Fällen nicht ganz einfach ist, zu bestimmen, wem was gehört. Dies ist etwa bei vertraglicher geregelter Zusammenarbeit der Fall, wenn Probleme entstehen, die im ursprünglichen Vertrag nicht berücksichtigt wurden. Beispielsweise könnte eine Milchlieferung unmöglich werden, weil die betreffenden Kühe von einer Seuche befallen werden. Wer hat für den entgangenen Geschäftsgewinn aufzukommen, wenn dieser Fall im Vertrag nicht geregelt wurde? Fällt die Last allein auf den Milchhändler oder kann er von dem Bauern Schadenersatz verlangen? Wir können hier die Frage außer Acht lassen, ob es hierauf überaupt eine objektiv richtige Antwort gibt. Jedenfalls besteht Unsicherheit, solange die beiden Kontrahenten verschiedene Auffassungen zu dieser Frage hegen. Denn in diesem Fall schicken sich beide an, ein und denselben Gegenstand (das Geld, das sich zur Zeit in Händen des Bauern befindet) in ihren Besitz zu bringen. Da es aber nur einen – und erst recht nur einen rechtmäßigen – Eigentümer dieses Geldes geben kann, muß einer von beiden im Unrecht sein, und dessen Bestreben ist demnach ein Unsicherheitsfaktor.

Es gibt noch andere wichtige Fälle, in denen intellektuelle Unzulänglichkeiten die genaue Bestimmung des Eigentums einer Person behindern, z.B. im Bereich des Erwerbs von Grundeigentum. Die Folge ist indes immer die gleiche: Unsicherheit, die daraus entsteht, daß zwei Leute bestrebt sind, ein und dasselbe Gut in ihre Gewalt zu bringen.

Eine gänzlich verschiedene Quelle der Unsicherheit ist moralische Unzulänglichkeit. Sie ist dann gegeben, wenn eine Person A genau weiß, daß nicht sie, sondern eine Person B die rechtmäßige Eigentümerin eines Gutes ist, und sich trotzdem anschickt, dieses Gut in ihren Besitz zu bringen. Dieser Sachverhalt liegt bei Diebstahl, Raub, Vergewaltigung, Mord und allen anderen Fällen vor, die man als Verbrechen bezeichnet. Auch hier besteht die Unsicherheit wieder im unvereinbaren Bestreben zweier Personen, ein und dasselbe Gut in ihren Besitz zu bringen. Nur ist die Quelle der Unsicherheit eben eine andere.

Intellektuelle Unzulänglichkeiten bei der Beurteilung eines gegebenen Sachverhalts ist nie ein dauerhaftes Problem. Irgendwann stellt sich heraus, ob z.B. der Milchhändler oder der Bauer den aus der Seuche entstandenen Schaden tragen muß, und wenn die beiden eine andere Verteilung der Lasten wünschen, können sie das vertraglich regeln. Dagegen sind moralische Mängel ein Unsicherheitsfaktor, der auch in hinlänglich bekannten Lebenslagen eine Rolle spielt.

Sowohl die intellektuellen, als auch die moralischen Mängel der Menschen sind naturgegebene Sachverhalte. Unter Aufwendung knapper Ressourcen können sie mehr oder weniger stark verringert werden, aber sie lassen sich nie völlig ausschalten. Menschen irren, und einige Menschen sind Kriminelle oder betätigen sich zumindest zeitweilig als solche. Kein Mensch kann diese Tatsachen und die aus ihnen entspringenden Probleme aus der Welt schaffen. Es wäre daher kein Einwand gegen freie Gesellschaften, daß sie nicht vollkommen sicher wären. Keine Gesellschaft ist das. Die entscheidende Frage ist eine andere: Durch welche Form politischer Organisation kann man Unsicherheit weitestgehend verringern? Doch bevor wir uns dieser Frage zuwenden, wollen wir noch einen näheren Blick auf das Wesen von Unsicherheit werden.

Der Nutzen der Unsicherheit

Zunächst einmal sollten wir festhalten, daß Unsicherheit auf indirekte Weise viele Vorteile mit sich bringt. Denn die Mittel, die geschaffen werden, um ihr zu begegnen, lassen sich sich anschließend häufig vorbeugend einsetzen. Wenn etwa der Bauer und der Milchhändler über die anhängige Schadensregulierung streiten, und jemand findet eine treffliche Lösung ihres Falles, dann ist damit nicht nur diesen beiden gedient, sondern auch allen anderen, die später in eine ähnliche Situation kommen. Und selbst wenn keine Lösung gefunden wird, so ist dieser öffentlich ausgetragene Konflikt doch von allgemeinem Nutzen. Denn andere wissen nun, daß hier ein Problem besteht, und sie können Vorkehrungen treffen, um es so gut es geht auszuschalten.

Gleiches gilt vom Umgang mit Kriminellen. Der Erfinder des Vorhängeschlosses hat nicht nur sich, sondern allen Menschen einen großen Dienst erwiesen, und aus dem gleichen Grunde haben heute alle körperlich Schwächeren (insbesondere Frauen und ältere Menschen) Anlaß, den Herren Smith & Wesson herzlich verbunden zu sein.

Aber die indirekten Vorteile der Unsicherheit reichen noch viel weiter. Das wichtigste Mittel zur Verringerung der Unsicherheit ist ohne Zweifel unsere Sprache, durch die wir uns mit unseren Anspruchsgegnern argumentativ auseinandersetzen können und die uns auch erlaubt, Unterstützung bei anderen Menschen zu gewinnen. Ein mit Sprache und Argumentation zusammenhängendes Mittel ist das Streben nach Objektivität: Wenn es gelingt, eine objektive Grundlage zu entdecken, auf die man sich gemeinsam mit seinen Gegnern stellen kann, so werden dadurch gütliche Einigungen erleichtert. In einem Wort: Sprache, Argumentation, Rationalität und Objektivität sind herausragend wichtige Mittel zur Bewältigung von Konflikten und zur Verringerung von Unsicherheit, und bekanntlich lassen sie sich für zahllose andere Zwecke nutzbringend einsetzen. Doch es gäbe sie nicht, oder nicht im gleichen Maße, wenn nicht das Bestehen von Konflikten und Unsicherheit ihre Entwicklung und Fortentwicklung lohnend gemacht hätte.

Auch bestimmte Einstellungen zu unseren Mitmenschen entspringen indirekt dem Umgang mit Unsicherheit. Beispielsweise ist Offenheit für andere Standpunkte nicht zuletzt eine vorbeugende Maßnahme: A macht sich mit den Argumenten Bs vertraut, mit denen dieser um die aktive oder passive Unterstützung von C und D buhlt. Die Kenntnis dieser Argumente versetzt A in die Lage, eine Gegenkampagne zu starten oder frühzeitig den friedlichen Ausgleich mit B zu suchen. Ganz ähnlich ist Toleranz eine Haltung, mit der man die Anzahl der Konflikte, an denen man beteiligt ist, zu verringern. Herr Intolerant befehdet über Jahre hinweg seinen Nachbarn X, der Gartenzwerge neben seiner (Xs) Haustür aufstellt. Herr Tolerant findet die Gartenzwerge ebenfalls geschmacklos, wirkt aber ihrem öffentlichen Dasein nicht entgegen und hat somit seinen Frieden mit X. Zur Begrenzung von Unsicherheit in bestehenden Konflikten trägt auch etwa die christliche Nächstenliebe bei. Der Christ hält auch die andere Wange hin. Er steckt gegenüber seinem Nächsten zurück, selbst wenn er meint, im Recht zu sein.

Solche Einstellungen und Fähigkeiten werden natürlich vor allem dadurch gefördert, daß die betreffenden Individuen mit Konflikten umzugehen haben. Das bedeutet nicht, daß die bloße Existenz von Unsicherheit an sich bereits alle möglichen Kulturgüter herzaubert. Vielmehr schaffen die durch Unsicherheit aufgeworfenen Probleme eine Anreizstruktur, die kulturschaffende Kräfte belohnt. Doch daraus folgt wiederum umgekehrt, daß eine starke Verringerung der Unsicherheit – sei es durch eine plötzliche allgemeine Läuterung der Menschen oder durch den allgewaltigen Leviathan-Staat – diese Anreize schwächt. Es ergeben sich zwei Schlußfolgerungen.

Erstens kann man offensichtlich nicht beides zugleich haben: Größtmögliche Sicherheit und größtmögliches kulturelles Leben. Vielmehr muß hier abgewogen werden, wieviel Sicherheit man wünscht und wieviel kulturelle Dynamik man dafür zu opfern gewillt ist. Und daraus ergeben sich dann natürlich weitere Fragen: Wer trifft diese Abwägung? Wer sollte sie treffen? Anhand welchen Kriteriums? Wir kommen auf diese Fragen zurück.

Zweitens aber wäre es eine widersprüchliche Strategie, Sicherheit als das allein ausschlaggebende Ziel anzusehen und jedweden kulturellen Verlust dafür in Kauf zu nehmen. Denn Sicherheit hängt ganz entscheidend davon ab, wie geübt die beteiligten Personen im Umgang mit Konflikten sind. Wenn es eine zeitlang gelänge, ein bestimmtes Gebiet mit schierer Gewalt vollkommen zu befrieden, so würden dessen Bewohner im Laufe der Zeit ihre Fähigkeiten zur Konfliktbewältigung verlieren. Die Konflikte würden unter dem Mantel des Leviathan weiter bestehen, und statt scheinbarer Sicherheit würde sich ein wachsendes Gewaltpotential heranbilden, das irgendwann ausbrechen könnte und dann nur schlecht zu stoppen wäre.

Müssen alle Konflikte gelöst werden?

Selbst wenn man außer Acht lassen will, daß ein Zustand der Unsicherheit keinesfalls nur negativ zu beurteilen ist, da er kulturschaffende Anreize beinhaltet, so kommt man jedenfalls an der Einsicht nicht vorbei, daß alle Mittel, die uns zur Verfügung stehen, knapp sind und daß die Produktion von Sicherheit daher nicht umsonst zu haben ist. Bisweilen ist es sinnvoll, ein bestimmtes Maß an Unsicherheit hinzunehmen, da man zu dessen Beseitigung Mittel aufbringen müßte, die dann an anderer dringender Stelle fehlen würden.

Kurzum, selbst wenn wir zugestehen wollten, daß vollkommene Sicherheit an sich ein Idealzustand wie Freiheit, Gerechtigkeit und Schönheit ist, so ist doch die Produktion von Sicherheit (d.h. der Einsatz von Mitteln, um einen solchen Zustand herzustellen) kein solches Ideal, sondern – wie jede andere Form der Produktion – ein Handeln, das ganz eigenen Gesetzen unterliegt. Führen wir uns nur die beiden wichtigsten Mittel – Argumentation und Gewalt – vor Augen.

Mit dem Ableben von Mutter Theresa hat sich vermutlich die Zahl derer halbiert, die auch den abgebrühtesten Halunken noch mit guten Worten zu bessern suchen. Gute Worte brauchen Zeit, und Zeit ist knapp. Es gibt sehr wenige Menschen, denen die Therapie von Kriminellen soviel Genugtuung verschafft, daß sie irgendeinen größeren Teil ihrer Zeit darauf zu verwenden bereit wären. Und selbst unter jenen, die eine solche Ader haben, ist diese Bereitschaft begrenzt. Früher oder später kümmern sie sich lieber um ihre Kinder, schwätzen mit den Nachbarn, arbeiten eine Stunde mehr in ihrem Brotberuf oder gehen nochmal ins Kino als daß sie einem weiteren Tunichtgut moralisch unter die Arme greifen (falls sie das überhaupt dürfen und falls der Betreffende daran überhaupt ein Interesse hat). Die Folge ist, daß es zu einigen Delikten kommt, die unter Aufwendung von mehr Zeit hätten vermieden werden können.

Aus den gleichen Gründen gibt es selbst bei uns in Deutschland nicht mehr als drei Instanzen, durch die man seinen Rechtsstreit vor Gericht prüfen lassen kann. Es steht außer Zweifel, daß in vielen Fällen die Einführung zusätzlicher Instanzen und längerer Gerichtssitzungen die Aussicht erhöhen würden, daß weitere urteilsrelevante Tatsachen in Betracht gezogen werden. Aber sogar sehr pingelige staatliche Richter müssen ihren Fall irgendwann einmal abschließen. Die Folge ist, daß es in einigen Fällen zu Fehlurteilen kommt, die unter Aufwendung von mehr Zeit hätten vermieden werden können.

Gleiches gilt für den Einsatz von Gewalt. Gewalt ist teuer, denn sie kann Gesundheit und Leben kosten, und die meisten Menschen neigen dazu, diese Dinge sehr zu schätzen. Bei der Bewältigung von Konflikten mit gewaltsamen Mitteln – von der Ohrfeige über Messerstechereien zweier Banden bis zur Konfrontation organisierter militärischer Verbände – zahlen einige daher hohe und höchste Preise. Die Folge ist, daß die meisten Menschen sehr sparsam beim Einsatz von Gewalt sind. Sie nehmen Verletzungen ihres Eigentums hin, wenn die gewaltsame Wiedergutmachung noch größere Unsicherheit mit sich bringen würde. Aus dem gleichen Grund sind sie auch vorsichtig bei der gewaltsamen Parteinahme für andere und entschließen sich dazu nur, wenn ein Irrtum über die Rechtslage ausgeschlossen ist und ein Verzicht auf den Gewalteinsatz über kurz oder lang noch größere Nachteile zeitigen würde. Das bedeutet natürlich umgekehrt, daß einige Menschen nicht zu ihrem Recht kommen.

Private Konfliktlösungen

Die vorstehenden Ausführungen betreffen Eigenschaften der Sicherheitsproduktion, die in jedem System gesellschaftlicher Organisation anzutreffen sind. Denn in jeder Gesellschaft herrscht Knappheit. Nun wollen wir kurz die wesentlichen Eigenheiten einer rein privatwirtschaftlichen Sicherheitsproduktion besprechen.

Zunächst wollen wir feststellen, daß „privatwirtschaftlich“ mehr beinhaltet als „marktwirtschaftlich.“ Alle marktwirtschaftlichen Aktivitäten sind zwar privat, aber nicht alle privaten Aktivitäten gehen auf dem Markt vor sich. Menschliches Zusammenwirken in der Familie, im Verein, im Freundeskreis ist gewöhnlich völlig privat organisiert und dennoch unbezahlt.

Weiterhin sollte klar sein, daß das Wort „Sicherheit“ nur eine nützliche Abkürzung für eine unendliche Vielzahl individueller Formen von Sicherheit ist – von dem stündlichen Blick aus dem Küchenfenster und der geladenen Schrotflinte im Waffenschrank, über den mit dem Nachbarn gestandenen Wachposten und die Alarmanlage im Haus, über die Aussprache mit dem Nachbarn, die Einigung beim Schiedsrichter und die Gerichtsverhandlung über den Diebstahl einer Handtasche, bis zum internationalen Gerichtshof oder zum Einsatz einer Panzerdivision.

In einer freien Gesellschaft gäbe es alle möglichen Formen der Sicherheitsproduktion, die nebeneinander bestehen würden. Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß nur professionelle Sicherheitsdienste bestehen könnten, die von Unternehmen am Markt angeboten werden. Wie auch immer jedoch die mannigfachen Dienste im Einzelfall geleistet werden, stets bringt die privatwirtschaftliche Natur des Produktionsprozesses zwei Besonderheiten mit sich.

Erstens ist jeder Bürger darauf beschränkt, die Mittel einzusetzen, die er selber mobilisieren kann: seine Arbeitskraft und sein Kapital, und eventuell die Arbeitskraft und das Kapital von Verwandten und Freunden. Versicherungen bieten einen weitergehenden vertraglichen Schutz, aber auch hier gilt, daß die Mittel jedes einzelnen Bürgers stets genau begrenzt sind.

Dies hat nun zweitens zur Folge, daß jeder Bürger die letztliche uneingeschränkte Verantwortung für den Produktionsprozeß trägt. Er entscheidet, wieviel Zeit und wieviel Geld er zur Befriedigung seiner Sicherheitsbedürfnisse investiert, er legt die Kriterien fest, nach denen er die verschiedenen ihm zur Verfügung stehenden Mittel wählt, und auf ihn fallen alle Folgen seiner Entscheidung zurück: Sicherheit im Falle des Produktionserfolges, körperlicher und materieller Schaden im Falle des Mißerfolges. Mehr als bei allen anderen Dingen wird er folglich hier besondere Sorgfalt walten lassen, um sein Hab und Gut und das seiner Familie nicht fahrlässig zu gefährden.

Staatliche Konfliktlösungen

Die privatwirtschaftliche Produktion von Sicherheit ist sicher nicht vollkommen – wenn der Maßstab der Vollkommenheit in unserer Phantasie oder gar in göttlicher Einsicht liegt. Private Sicherheitsproduzenten werden sich irren, indem sie etwa an manchen Tagen zuviel Personal zum Schutz von Müllers Villa und zu wenig Leute zur Sicherung des Hauptbahnhofes abstellen. Sie werden zuweilen die falschen Mitarbeiter einstellen, zu teure Waffen kaufen oder unnützes Wissen erwerben. Doch diese Fehlentscheidungen finden sich in allen menschlichen Unternehmungen, und es ist daher sinnlos, private Organisationen am Maßstab der Unfehlbarkeit zu beurteilen.

Der einzige Maßstab, der praktisch relevant ist, liegt in der Leistung staatlicher Sicherheitsproduzenten. Wir wollen daher im folgenden nur darauf schauen, welchen Einfluß die politische Natur (privat oder staatlich) eines Sicherheitsproduzenten auf seinen Produktionserfolg hat.

Der für unsere Überlegungen bedeutsame Unterschied zwischen privaten und staatlichen Organisationen liegt in folgendem Umstand: daß private Organisationen die Eigentumsrechte aller beteiligten Personen respektieren müssen und mithin auf die freiwillige Zusammenarbeit aller beteiligten Individuen angewiesen sind, während staatliche Organisationen dadurch „zusätzlichen Spielraum“ haben, daß sie privates Eigentum zumindest teilweise nicht respektieren müssen. Alle staatlichen Organisationen beruhen darauf, daß sie durch Steuern finanziert werden, und/oder darauf, daß es privaten Organisationen untersagt ist, in gleicher oder ähnlicher Funktion tätig zu werden. Das ermöglicht ihnen, die Wünsche ihrer Mitarbeiter und Kunden stärker zu mißachten als es Privatunternehmungen möglich wäre. Und aus dem gleichen Grunde ist die persönliche Verantwortung der staatlichen Produzenten geringer als diejenige von Privatleuten. Daraus ergeben sich die folgenden Konsequenzen.

Erstens wird der Gewalteinsatz billiger. Es ist nun einmal recht mühselig und häufig entmutigend, eine Konfliktlösung auf argumentativem Wege zustande zu bringen. Und es ist sehr einfach, den Revolver zu ziehen oder eine Staffel Bomber loszuschicken, um „klare Verhältnisse“ zu schaffen. Der Leviathan-Staat kann nun die Meinung seiner Staatsbürger im Einzelfall ignorieren, weil er keinen Konkurrenten zu fürchten hat, und er kann rückhaltlosen Gebrauch von Gewalt machen, weil niemand in der Lage ist, ihn zur Verantwortung zu ziehen. Er wird daher zweifelsohne mehr Gewalt einsetzen, als es unter sonst gleich Umständen geschähe. Ein von Sicherheitsproduzenten verursachtes Blutbad ist zwar auch in einer freien Gesellschaft möglich, aber es ist sehr viel wahrscheinlicher im Fall des staatlichen Gewaltmonopolisten, da alle negativen Begleiterscheinungen des Gewalteinsatzes nicht oder zumindest nicht ausschließlich auf ihn zurückfallen. Staatliche Sicherheitsproduktion macht uns daher nicht sicherer, sondern unsicherer.

Zweitens konzentriert sich die Sicherheitsproduktion auf eher leichte Fälle, selbst wenn diese weniger wichtig sind. Da die staatlichen Richter und Polizisten vom Urteil der Kunden weitgehend isoliert sind, verringert sich die Notwendigkeit, sie auf Fälle anzusetzen, die die Bevölkerung als vorranging ansieht – wie z.B. die Wiederbeschaffung geraubten und gestohlenen Eigentums, Stellung der Täter usw. Sie verbringen daher übermäßig viel Zeit mit der Verfolgung von Parksündern und Haschischkonsumenten, beim Stadionschutz, bei der Verkehrsüberwachung usw. Infolgedessen mehren sich Eigentumsdelikte, da die Kriminellen mit weniger organisierter Gegenwehr zu rechnen haben, und es mehren sich die Schikanen, denen die Zivilbevölkerung ausgesetzt ist. Auch in dieser Hinsicht läßt sich das Urteil nicht vermeiden: Mehr Staat macht unsicherer.

Drittens wird der staatliche Sicherheitsapparat unmäßigerweise zum Schutz der im Staat tonangebenden Personen und Gruppen verwendet. Das äußert sich beispielsweise in dem festungsähnlichen Schutz für die Wohnungen von Spitzenpolitikern und –beamten und in gepanzerten Fahrzeugen und langen Eskorten. Trotz der größeren staatlichen Gesamtausgaben für Sicherheit sind die zum Schutz der Bevölkerung tatsächlich aufgewendeten Mittel daher häufig geringer als es in einem privatwirtschaftlichen System der Fall wäre.

Viertens werden die Kosten der Parteinahme für alle Beteiligten drastisch reduziert. In einem System privater Sicherheitsproduktion herrschen enge Grenzen für die aktive Beteiligung an den Konflikten anderer Leute, denn alle Parteiergreifenden (Familie, Freunde, Bekannte, private Polizeiagenturen) setzen ihr eigenes Eigentum ein, und sie werden dazu nur dann bereit sein, wenn sie entweder von der Sache ihrer Partei völlig überzeugt sind und/oder wenn sie entsprechend hoch bezahlt werden. Sobald der Staat auf den Plan tritt, ändert sich das. Die Kosten der Parteinahme werden hier „sozialisiert“, d.h. von allen (auch den unbeteiligten) Steuerzahlern getragen. Daraus ergeben sich zwei Folgen.

Zum einen wächst für die Bürger der Anreiz, ihre Konflikten unter Inanspruchnahme öffentlich Bediensteter auszutragen, da sie die Kosten dieser Inanspruchnahme auf die Allgemeinheit abgewälzen können. Kleine Zwistigkeiten unter Nachbarn, die zuvor meistens schnell begraben wurden, weil sich der ganze Streit nicht lohnt, werden nun in die Gerichtshöfe getragen und monopolisieren dort die Zeit der Richter, die nun immer weniger Zeit haben, sich um die Aufklärung wirklich wichtiger Fälle zu kümmern. Herr Intolerant zwingt seinen Kreuzzug gegen die Gartenzwerge des Nachbarn X durch zwei Instanzen, und derweil werden mutmaßliche Räuber, Diebe und sogar Mörder auf freien Fuß gesetzt, da man nicht die Zeit hat, sich mit ihnen zu befassen. Aus der Sicht der Politiker und Staatsdiener ist diese Entwicklung nicht unbedingt von Nachteil, denn ohne Zweifel liefert die künstlich geschürte „Nachfrage“ nach staatlicher Hilfe in Bagatellfällen eine politische Rechtfertigung für größere Sicherheitsbudgets.

Zum anderen wächst auch für den Staat seinerseits die Versuchung, solche privaten Konflikte hochzuspielen und für seine Zwecke auszuschlachten. Die Frage, welche Partei im Recht ist, spielt für den Staat eine weniger bedeutsame Rolle als für private Organisationen, da Politiker und Beamte die Folgen einer falschen Parteinahme nicht ihm gleichen Maße tragen müssen wie private Unternehmer. Daher werden sie zur Parteinahme der bloßen Parteinahme wegen neigen, da dies die „Nachfrage“ nach staatlichem Beistand erhöht. Der deutsche Staat hat mittlerweile bereits eine ganze Reihe von vormals rein privaten Angelegenheiten zu vorgeblichen „gesellschaftlichen Problemen“ hochstilisiert, die von der üblichen Armada ansonsten unverwendbarer Literati in den staatlichen Universitäten, Ämtern und Ministerien thematisiert und „gelöst“ werden. Beispiele sind „das Geschlechterverhältnis“, „der Generationenkonflikt“ und „das Rassismusproblem.“ Die Agenda selbst ist natürlich unerschöpflich, wie auch jüngere Entwicklungen in den USA zeigen. Im Kern bedeutet all dies nichts anderes als die vielbeschworene Politisierung der Gesellschaft zum alleinigen Vorteil des staatlichen Apparats. Das Leben der Zivilbevölkerung wird dadurch natürlich immer unsicherer. Die Bürger werden zunehmend entmündigt und verlieren somit die Übung, ihre Konflikte selbstverantwortlich zu bewältigen. Und tagtäglich müssen sie damit rechnen, daß der Staat auf neue Weise in ihr Leben eingreift, um ihre Probleme für sie zu lösen. Auch hier also müssen wir schließen: Wenn der Staat versucht, uns sicherer zu machen, erreicht er nur das Gegenteil.

Leviathans innere Widersprüche

Die vorstehenden Überlegungen betreffen Staaten im allgemeinen, d.h. auch solche Staaten, die noch nicht so groß und übermächtig sind, daß man sie als Leviathan bezeichnen könnte. Abschließend wollen wir daher zwei Vorteile erörtern, die angeblich dem Leviathan-Staat im besonderen zukommen.

Einer Schule von Vertragstheoretikern zufolge ist der Leviathan-Staat die Ursache der menschlichen Zivilisation überhaupt. Ohne den Leviathan, so das Argument, befindet sich die Menschheit in einem anarchischen Naturzustand des „jeder gegen jeden“. Erst der Leviathan macht jeden Verstoß gegen gesellschaftliche Regeln aussichtslos. Somit entschließen sich die Menschen, in nüchterner Abwägung ihrer Handlungsmöglichkeiten, für ein Leben in Gesellschaft. Nun mag dies in der Tat der Naturzustand der Menschheit sein oder nicht – fest steht jedenfalls, daß diese Theorie der Gesellschaftsentstehung sich selbst widerspricht. Denn der Leviathan selber ist eine menschliche Organisation, und dieses Stück Zivilisation muß auf anderen Grundlagen als ihrer eigenen Gewalt zustandegekommen sein – was der Grundannahme dieser Theorie widerspricht.

Das für und wider dieser Theorie wurde zumeist im Hinblick auf das von ihr unterstellte Menschenbild diskutiert. Ihre Fürsprecher meinten, daß es der Wirklichkeit entspräche, während die Kritiker die Existenz des Guten im Menschen betonten. Doch wie wir sahen, ist diese Frage hier völlig unbedeutend. Wie gut die Menschen auch immer sein mögen – wenn und insofern sie eine Zivilisation schaffen, muß diese auf anderen Grundlagen stehen als auf Gewalt.

Das zweite Argument ist sehr viel bescheidener und läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß sich durch politische Zentralisierung eine weitergehende Befriedung der beteiligten Staaten erzielen läßt. Solange es unabhängige Staaten gibt, so das Argument, besteht die Gefahr gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen ihnen. Dies läßt sich vermeiden, indem man das politische Ruder an die nächsthöhere Instanz abtritt, z.B. von den deutschen Ländern ans deutsche Reich, dann an die Europäische Union und weiter an die künftige Weltregierung. Dieses Argument widerspricht in ähnlicher Weise seinen eigenen Voraussetzungen wie die oben erörterte Theorie. Denn der Sachverhalt ist doch der folgende: Entweder besteht vor der Zentralisierung überhaupt kein nennenswerter Konflikt zwischen den Staaten; dann besteht auch kein Grund für die Zentralisierung. Oder es besteht ein zwar ernster Konflikt, der sich aber durch zwischenstaatliche Gespräche und Kompromißlösungen aus der Welt schaffen läßt; dann reicht es, einen gemeinsamen Ausschuß einzusetzen und mit anderen ad hoc Maßnahmen den Ausgleich zu suchen. Oder es herrscht in der Tat ein Konflikt, der so unversönlich ist, daß beide Seiten das Blutbad suchen; dann würde ein gemeinsamer Staat daran auch nichts ändern, sondern im Gegenteil die Sache nur schlimmer machen. Denn früher oder später würde eine Seite die Oberhand im Staatsapparat gewinnen und sich auf die andere Seite stürzen, die dann überdies keinen eigenen Sicherheitsapparat mehr hätte und somit ihren Feinden wehrlos ausgeliefert wäre.

Wie man es also auch dreht und wendet, im Ergebnis macht die staatliche Produktion von Sicherheit uns alle unsicherer als wir es sein müßten, wenn wir auf unsere eigenen Kräfte vertrauen würden. Warum tun wir das also nicht? Die Antwort ist wahrscheinlich recht bemerkenswert und/oder witzig.

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Im Rahmen dieser Darstellung kann keine ausführliche Erörterung rein privatwirtschaftlicher Gerichte und Polizeidienste erfolgen. Siehe zur Einführung M.N. Rothbard, Eine neue Freiheit (Berlin: Kopp, 1999), H.-H Hoppe, „The Private Production of Defense.“ (Auburn, AL: Mises Institute, 1998) und Blankertz, Stefan „Eingreifen statt Übergreifen“ in F. Fliszar (Hg.). Freiheit: die unbequeme Idee (Stuttgart 1995).