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Die Irrthümer des Historismus in der deutschen Nationalökonomie.

Neunter Brief.
Zehnter Brief.
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Zwölfter Brief.
Dreizehnter Brief.

Zehnter Brief.

51 Auch meine Ausführungen über das Verhältniss der theoretischen Nationalökonomie zu den praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft haben Schmoller‘s Zustimmung nicht zu finden vermocht. Ich hatte die theoretische Nationalökonomie als die Wissenschaft gekennzeichnet, welche das generelle Wesen (die Erscheinungsformen!) und den generellen Zusammenhang (die Regelmässigkeiten in der Coëxistenz und der Aufeinanderfolge — die Gesetze!) der volkswirthschaftlichen Phänomene zu erforschen und darzustellen habe; die Volkswirthschaftspolitik und die Finanzwissenschaft aber als die Wissenschaften von den Grundsätzen, den Maximen, nach welchen, je nach der Besonderheit der Verhältnisse, die Volkswirthschaft am zweckmässigsten gefördert, beziehungsweise der Staatshaushalt am zweckmässigsten eingerichtet werden könne.(1) Das Verhältniss zwischen der ersteren und den beiden letzt- 52 genannten Wissenschaften bezeichnete ich der näheren Erklärung willen aber als ein solches, wie etwa jenes der Anatomie und Physiologie zur Chirurgie und Therapie.(2) Die theoretische Volkswirthschaftslehre sei in ähnlicher Weise die theoretische Grundlage der praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft, wie die Anatomie und die Physiologie die theoretische Grundlage jener Wissenschaften, welche uns die Grundsätze und Vorgangsweisen zum zweckmässigen Eingreifen in den menschlichen Organismus lehren.

Ich glaubte nach dem Gesagten mich für Alle, für welche wissenschaftliche Werke überhaupt geschrieben sind, verständlich genug ausgedrückt zu haben. Zum Ueberflusse fügte ich indess zu den obigen Ausführungen noch die Bemerkung hinzu, dass die praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft selbst wieder praktischer Anwendung fähig seien, und die obigen Wissenschaften und die Praxis der Volkswirthschaftspolitiker und der Finanzmänner desshalb nicht verwechselt werden dürfen, zwischen welchen vielmehr der nämliche Unterschied bestehe, wie etwa zwischen der Chirurgie und der Therapie, (welche ja auch praktische Wissenschaften seien!) und der Praxis wissenschaftlich gebildeter Aerzte, oder wie zwischen der chemischen und der mechanischen Technologie und der Thätigkeit der praktischen Chemiker und Mechaniker.(3)

Hören wir nun, was Schmoller gegen diese Ausführungen zu bemerken hat.

Derselbe schreibt wörtlich: „Gewiss wollen diese Disciplinen (die Volkswirthschaftspolitik und die Finanzwissenschaft), so wie sie gewöhnlich vorgetragen werden 53 und in älteren Lehrbüchern be- und misshandelt werden, zugleich praktische Anweisungen sein; die älteren theilweise noch gebrauchten Bücher waren nichts als socialpolitische, verwaltungsrechtliche und finanzwissenschaftliche Receptsammlungen. Aber es ist ein Fortschritt der neueren Zeit, dass sie darüber hinaus gekommen ist; gerade Roscher’s zweiter und dritter Band, Stein‘s und Wagner’s Finanzwissenschaft repräsentiren die gelungensten Versuche diese Disciplinen (die Volkswirthschaftspolitik und die Finanzwissenschaft!) zum Range von theoretischen Wissenschaften zu erheben.“(4)

Schmoller hält es somit für einen Mangel der Volkswirthschaftspolitik und der Finanzwissenschaft, für eine Misshandlung  dieser Wissenschaften, wenn sie, wie dies in älteren Lehrbüchern thatsächlich der Fall sei, „zugleich praktische Anweisungen sein wollen“? Was soll, mit Verlaub, eine praktische Wissenschaft(5) denn überhaupt anders, als eine praktische Anweisung im obigen Sinne „sein wollen“? Es gibt keine praktische Wissenschaft, welche an sich etwas anderes, als eine praktische Anweisung in dem obigen Verstande des Wortes ist, und die praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft machen hiervon selbstverständlich keine Ausnahme. Sie sollen uns, nicht nur „zugleich“, sondern überhaupt die Grundsätze zum zweckmässigen der Verschiedenheit der Verhältnisse entsprechenden Handeln auf dem Gebiete der 54 Volkswirthschaft lehren. Worin soll also die Misshandlung der praktischen Wirthschaftswissenschaften in den „älteren Büchern“ bestehen? Nur in den Augen eines Gelehrten, in dessen Geiste eine vollständige Verwirrung über das Wesen der politischen Oekonomie und ihrer Theile herrscht, kann das Streben, die natürlichen und nächsten Aufgaben der praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft zu lösen, als eine Misshandlung dieser Wissenschaften erscheinen.

Freilich! Schmoller vermag, wie aus seinen Erörterungen hervorgeht, die praktischen Wissenschaften im herrschenden Sinne des Wortes „der Hauptsache nach“ nur als Receptsammlungen zu denken; „die älteren theilweise noch gebrauchten Bücher wären, meint Schmoller, sogar nichts anderes, als socialpolitische, verwaltungsrechtliche und finanzwissenschaftliche Receptsammlungen gewesen“.

Eine Wissenschaft, welche uns die Grundsätze, die Maximen, zum zweckmässigen der Verschiedenheit der Verhältnisse entsprechenden Handeln lehrt, ist also eine praktische Anweisung im Sinne einer Receptsammlung? Schmoller kann eine Wissenschaft von den Grundsätzen zur zweckmässigen der Verschiedenheit örtlicher und zeitlicher Verhältnisse entsprechenden Pflege der Volkswirthschaft, oder von eben solchen Grundsätzen zur zweckmässigen Einrichtung des Staatshaushaltes, nur als eine volkswirthschaftliche Receptsammlung denken? Die Chirurgie und die Therapie sind praktische Wissenschaften, folglich Receptsammlungen? Die Technologie ist eine Receptsammlung?

Und die älteren theilweise noch gebrauchten Bücher über Volkswirthschaft und Finanzwissenschaft bis auf Roscher, Wagner und Stein waren nichts 55 als socialpolitische, verwaltungsrechtliche und finanzwissenschaftliche Receptsammlungen?

Wie profund muss die Einsicht eines Autors in das Wesen der praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft und seine Kenntniss der bezüglichen Literatur sein, damit eine solche Auffassung möglich werde!

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(1) Untersuchungen, S. 9 und 245 ff.
(2) A. a. O. S. 246.
(3) Ebend., S. 245 ff.
(4) Jahrbuch, a. a. O. S. 245.
(5) Ich bezeichne die praktischen Wissenschaften an zahlreichen Stellen als sogenannte Kunstlehren und glaube mich demnach auch hier für Jedermann, der mich verstehen will, verständlich genug ausgedrückt zu haben.