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Die Irrthümer des Historismus in der deutschen Nationalökonomie.

Neunter Brief.
Zehnter Brief.
Elfter Brief.
Zwölfter Brief.
Dreizehnter Brief.

Dreizehnter Brief.

64 Sie werfen mir ein, dass Schmoller über die Art und Weise, wie die praktischen Wirthschaftswissenschaften das Gewand der Kunstlehre vollständig abstreifen und zu theoretischen Wissenschaften erhoben werden sollen, nicht nur der im vorigen Briefe erwähnten, sondern auch noch einer anderen Meinung sei, und es demnach -unbillig wäre, derselben an dieser Stelle nicht zu gedenken. Sie haben Recht, und ich will, um keine Neugierde auf die Folter zu spannen, diese zweite Ansicht Schmoller‘s hier sofort wiedergeben. Er schreibt knapp im Anschlusse an die in meinem vorigen Briefe citirte Stelle: „Sie (die praktische Nationalökonomie nämlich, welche das Gewand der Kunstlehre vollständig abgestreift hat), gibt dann (!?) dem Studirenden ein concretes individuelles Bild, aber geordnet nach den Begriffen, Typen, Relationen, die aus der allgemeinen Theorie der Nationalökonomie sich ergeben und specialisirt bis zur Verfolgung in das Einzelne der Erscheinungen und Ursachen, welche in dem generellen und darum abgeblassten Bilde der allgemeinen Nationalökonomie 65 entweder ganz fehlen oder zurücktreten. Und ganz dasselbe gilt von der Finanzwissenschaft.“(1)

Schmoller beliebe zu überlegen, dass er in diesem Satze seine Meinung plötzlich ändert. Um die praktischen Wissenschaften zu theoretischen zu erheben, will er von den erstern zwar, nach wie vor, sämmtliche Grundsätze zum zweckmässigen Eingreifen in die Erscheinungen der Volkswirthschaft, also dasjenige, was dieselben eben zu praktischen Wissenschaften macht, „abstreifen“; an diesem Gedanken hält er fest; er will indess, — wenn ich Schmoller richtig verstanden habe — an die Stelle der ihres „Gewandes als Kunstlehren“ völlig entkleideten praktischen Wissenschaften, nicht mehr schlechthin die Wirthschaftsgeschichte, sondern geschichtlich-statistische Darstellungen über die einzelnen Gebiete der Volkswirthschaft, geordnet nach den Kategorien der „allgemeinen“ Nationalökonomie setzen.

Ich will den Grundsatz der Juristen: „Lex posterior derogat priori“ auf die Ausführungen Schmoller’s anwenden und annehmen, dass er, was auch sonst aus seinen Ausführungen hervorzugehen scheint, nicht seiner ersten, sondern seiner zweiten Meinung sei, und Sie fragen mich nun, was ich über die obige Art und Weise zu bemerken habe, in welcher Schmoller die praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft zu theoretischen zu „erheben“ gedenkt?

Mein den praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft in so hohem Masse, ja bis zur vollständigen Negirung derselben als selbständige Wissenschaften abgeneigter Gegner wird mir nun wohl selbst 66 nicht mehr zumuthen, dass ich mich mit der obigen Auffassung ernstlich befasse. Gewisse Gedanken sind widerlegt, sobald ihr Sinn klargestellt, sobald sie der Phraseologie, in welche ihr Autor sie hüllt, entkleidet sind. Wer die Erhebung der praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft zu theoretischen Wissenschaften damit beginnen will, dass er von denselben zunächst alle Grundsätze zum zweckmässigen Handeln auf dem Gebiete der Volkswirthschaft, also Alles, was die obigen Disciplinen eben zu dem macht, was sie sind, „abstreift“: mit dem ist so wenig zu rechten, als etwa mit einem Chirurgen, welcher einen Organismus durch Amputirung sämmtlicher Organe regeneriren wollte. „Streifen wir den praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft alle Grundsätze zum zweckmässigen Handeln auf dem Gebiete der Volkswirthschaft“ ab, so bleibt dann ungefähr eben so viel übrig, als von einer Geschichte der Volkswirthschaft, von welcher wir alle „Darstellungen geschichtlicher Entwicklungen“, als von einer theoretischen Nationalökonomie, von welcher wir alle „Gesetze der volkswirthschaftlichen Erscheinungen“ abstreifen würden, — d. i. das bekannte Messer ohne Klinge und Stiel.

Doch nehmen wir an, Schmoller habe den obigen Satz im Bewusstsein der aus ihm sich ergebenden Consequenzen niedergeschrieben, nehmen wir an, das Nirwana auf dem Gebiete der praktischen Wissenschaften schwebe ihm thatsächlich als Ideal, oder doch als erste Etape bei seinem Streben nach Erhebung der praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft zu theoretischen vor: so entsteht dann sofort die Frage, wie er von dieser negativen Grundlage ausgehend, seine Aufgabe lösen will?

67 Es sollen — meint Schmoller — „unter die Begriffe, Typen, Relationen, die aus der allgemeinen Theorie der Nationalökonomie sich ergeben“(!!!), gewisse von ihm näher charakterisirte historische Darstellungen eingeordnet, resp. diese letzteren den bezüglichen Lehren der „allgemeinen“ Nationalökonomie hinzugefügt werden.

Allerdings könnte irgend Jemand so unbescheiden sein, zu fragen, wie denn eine theoretische Wissenschaft dadurch, dass man ihr historische Darstellungen irgend welcher Art hinzufügt, zu einer praktischen Wissenschaft werden könne?

Quidquid non est simpliciter tale, illud non est cum addito tale.

In der Hinzufügung historischer Darstellungen zu einer theoretischen Wissenschaft könne — so werfen Sie ein — doch höchstens, wenn auch in noch so niederem Sinne, eine historische Behandlung dieser theoretischen Wissenschaft erkannt werden; es sei aber nicht abzusehen, wie auf diesem Wege praktische Wissenschaften entstehen sollen, welche das Gewand der Kunstlehre völlig abgestreift haben und die zu theoretischen Wissenschaften erhoben worden sind ?

Wie wenig Sie dem Gedankenfluge eines Schmoller zu folgen vermögen! Hören Sie doch nur, was er weiter schreibt:

„Sie (die zu einer theoretischen Wissenschaft erhobene praktische Nationalökonomie!) gibt dann dem Studirenden ein concretes individuelles Bild, aber geordnet nach den Begriffen, Typen, Relationen, die aus der allgemeinen Theorie der Nationalökonomie sich ergeben, und specialisirt bis zur Verfolgung in das Einzelne der Erscheinungen und Ursachen, welche in dem generellen und darum abgeblassten Bilde der 68 allgemeinen Nationalökonomie entweder ganz fehlen oder zurücktreten.“

Verstehen Sie noch immer nicht?

Sie wenden ein, dass eine theoretische Wissenschaft und somit auch eine solche von der Volkswirthschaft uns weder ein concretes, noch ein abstractes Bild, sondern die Gesetze der Erscheinungen zu lehren habe, die Aufgabe, uns ein concretes Bild der Erscheinungen zu bieten, dagegen den historischen Wissenschaften zufalle. Wenn aber auch davon abgesehen werden würde, wie vermöchte jenes abgeblasste Bild der Erscheinungen, welches Schmoller als allgemeine Nationalökonomie bezeichnet, dadurch dass wir demselben historische Darstellungen irgend welcher Art hinzufügen, zu einer „praktischen Wissenschaft von der Volkswirthschaft“, und zwar noch dazu zu einer solchen zu werden, welche zu einer theoretischen „erhoben“ ist?!

Sie kommen, mein Freund, schon wieder mit dieser unerquicklichen Frage. Ja, Sie zweifeln, dass es in Deutschland eine zweite Wissenschaft gebe, wo dergleichen im vollen Ernste vorgebracht werden könnte, vorgebracht von dem Herausgeber einer wissenschaftlichen Fachzeitung. Es seien dies Ungeheuerlichkeiten, welche geradezu einen tiefen Verfall des abstracten Denkens auf dem Gebiete der politischen Oekonomie bekunden. Wohin, rufen Sie aus, sei es selbst mit den einfachsten, den fundamentalsten Begriffen der Wissenschaftslehre in der neuhistorischen Schule deutscher Volkswirthe gekommen, wenn dergleichen möglich sei?(2)

69 „Rarus…. ferme sensus communis in illa fortuna.“

So denken Sie.

Nun hören wir aber, was Schmoller selbst hierüber denkt: „Wer auf diesem Standpunkte steht — ruft er triumphirend aus — für den sind die methodologischen Unterschiede in der Behandlung der theoretischen und praktischen Nationalökonomie nur graduelle, keine fundamentalen, wie für Menger. Wer so denkt und lehrt, der kann es auch nicht für das schlimmste wissenschaftliche Verbrechen ansehen, die Methode der theoretischen und praktischen Nationalökonomie vermischt zu haben.(3)

70 Scherz bei Seite, Schmoller hat Recht; denn wer auf diesem Standpunkte steht, so denkt und lehrt, dem ist in der That bereits alles Eins. Zwischen der Geschichte und Statistik der Volkswirthschaft einerseits, und der theoretischen Nationalökonomie andererseits, besteht dann keine unüberbrückbare Kluft mehr; die Volkswirthschaftspolitik und die Finanzwissenschaft haben das Gewand der Kunstlehre vollständig abgestreift; dadurch dass man der theoretischen Nationalökonomie historische Darstellungen hinzufügt, sind die praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft zu theoretischen Wissenschaften erhoben worden, und figuriren als speciellere Theile jenes allgemeineren und darum abgeblassten „Bildes“, als welches die theoretische Nationalökonomie sich uns fürderhin darstellt u. s. f., u. s. f.

Wer hierin nicht eine eben so tiefe als philosophische Auffassung des Wesens der politischen Oekonomie, ihrer Theile und des Verhältnisses dieser letzteren zu einander und zu ihren Hilfswissenschaften erkennt, ist ein Unbescheidener, überdies ein philosophisch nicht genügend Gebildeter, der für seine scientifische Ausbildung nichts Besseres zu thun vermag, als sich zu den Füssen des Herausgebers des Berliner Jahrbuches zu setzen, um zu sehen und zu hören, wie dieser tiefsinnige Methodiker — „denkt und lehrt“.

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(1) Jahrbuch, a. a. O. S. 241.
(2) Es sei hier noch bemerkt, dass aus einzelnen Stellen von Schmoller‘s Kritik (Vgl. S. 245) hervorgeht, dass er die zu theoretischen Wissenschaften erhobenen praktischen 69 Wissenschaften von der Volkswirthschaft in dem Verhältnisse speciellerer Theile einer allgemeinen theoretischen Nationalökonomie denkt. Schmoller übersieht hierbei, dass praktische Wissenschaften nie in diesem Verhältnisse zu theoretischen stehen können, vielmehr sowohl die theoretischen, als auch die praktischen Wissenschaften allgemeine und specielle Theile haben. So wenig die chemische Technologie ein specieller oder „detaillirterer“ Theil der Chemie, die Therapie ein specieller Theil der Physiologie ist, so wenig vermag man die praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft als specielle Theile einer allgemeinen Nationalökonomie zu bezeichnen. In Wahrheit hat vielmehr die Volkswirthschaftspolitik ebensowohl einen allgemeinen und einen speciellen Theil, wie die theoretische Nationalökonomie. Das Gleiche gilt von der Finanzwissenschaft. (Vgl. meine „Untersuchungen“ S. 247.)
(3) „Der Streit, ob wir es (in der politischen Oekonomie) „mit einer „Science“ oder einer „Art“ zu thun haben, ist dahin geschlichtet, dass Beides vorliege: eine reine Theorie als Grundwissenschaft und eine Kunstlehre als angewandte Wissenschaft, wenngleich freilich die methodologischen Consequenzen, welche diese Verschiedenartigkeit der beiden Theile des Gesammt-Wissensgebietes nach sich sieht, erst neuerdings in Erinnerung gebracht werden mussten.“ E. Sax: Das Wesen und die Aufgaben der Nationalökonomie. 1884. S. 21 ff. Wenn Sax jedoch meint, dass über den 70 obigen Punkt unter den Nationalökonomen kaum mehr eine Meinungsverschiedenheit bestehen könne, so dürfte die obige Stelle der Schmoller’schen Ausführungen ein Beweis für das Gegentheil sein.