Home Kontakt Sitemap Impressum

Die Irrthümer des Historismus in der deutschen Nationalökonomie.

Neunter Brief.
Zehnter Brief.
Elfter Brief.
Zwölfter Brief.
Dreizehnter Brief.

Elfter Brief.

56 Damit die Volkswirthschaftspolitik und die Finanzwissenschaft fürderhin keine Receptsammlungen seien, verlangt Schmoller, „dass man diese Disciplinen zum Range von theoretischen Wissenschaften erhebe“, d. i. in seinem Sinne, zu theoretischen Wissenschaften umgestalte; ja „Roscher‘s 2. und 3. Band, Stein’s und Wagner’s Finanzwissenschaft seien bereits gelungene Versuche, diese Disciplinen zum Range von theoretischen Wissenschaften zu erheben“.

Ich möchte vor allen meinen, dass sämmtliche Wissenschaften, ob sie nun theoretische oder praktische sind, den gleichen Rang aufweisen, die letzteren keinen geringeren, als die ersteren. Die Chirurgie und die Therapie, die mechanische und die chemische Technologie, die Volkswirthschaftspolitik und die Finanzwissenschaft stellen an den Forscherfleiss und das Genie ihrer Bearbeiter andere, indess sicherlich keine geringeren Anforderungen, als die theoretischen Wissenschaften; sie stehen nur in der Phantasie Schmoller‘s den ihnen entsprechenden theoretischen Wissenschaften „im Range“ nach. Ein Tschin der Wissenschaften im Sinne Schmol- 57 ler’s existirt überhaupt nicht; die praktischen Wissenschaften bedürfen der „Erhebung“ zu Theorien nicht.

Die Wissenschaften unterscheiden sich — was Schmoller zu übersehen scheint — nicht durch ihren „Rang“, sondern durch die Aufgaben, die sie zu lösen haben. Die theoretischen Wissenschaften haben das generelle Wesen (die Erscheinungsformen!) und die Regelmässigkeiten in der Coëxistenz und in der Aufeinanderfolge (die Gesetze!) der Erscheinungen, die praktischen Wissenschaften dagegen die Grundsätze zum zweckmässigen Handeln, zum zweckmässigen Eingreifen in die Erscheinungen, zu erforschen und darzustellen. Hierin, in der Verschiedenheit der Aufgaben liegt der Unterschied zwischen den theoretischen und praktischen Wissenschaften und die Erhebung der letzteren zu den ersteren ist ein Gedanke ungefähr von der nämlichen Tiefe, als ob in der Baukunst die „Erhebung“ des Fundamentes zur Façade, oder gar des Capitäls einer Säule zum Piedestal derselben angestrebt, und als eine epochemachende Umwälzung auf dem Gebiete der Architektur hingestellt werden würde. So sinnlos es wäre, die Chirurgie und die Therapie zur Anatomie und Physiologie, die chemische und die mechanische Technologie zur Chemie und Mechanik „erheben“ zu wollen, so wenig kann vernünftigerweise von einer Erhebung der praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft zu einer Theorie der volkswirthschaftlichen Erscheinungen die Rede sein.

Jede Wissenschaft kann allerdings in einem gewissen Sinne erhoben, d. i. vervollkommnet werden, aber nicht etwa, wie Schmoller sich dies vorstellt, dadurch, dass wir derselben ihrer Natur widersprechende, anderen Wissenschaften obliegende Aufgaben zuweisen, sondern, indem wir die jeder Wissenschaft eigen- 58 thümlichen Aufgaben in so vollkommener Weise, als dies der Zustand menschlicher Erkenntniss jeweilig zulässt, zu lösen unternehmen. Dies gilt selbstverständlich auch von den praktischen Wissenschaften. Auch diese sind unbegrenzter Vervollkommnung fähig, aber sicherlich nicht auf dem von Schmoller geplanten Wege, indem wir dieselben zu theoretischen Wissenschaften umgestalten. Damit die praktischen Wissenschaften keine Receptsammlungen seien, muss man dieselben, wie ich dies ausführlich dargelegt habe(1), auf die theoretischen Wissenschaften begründen: die Chirurgie und die Therapie auf die Anatomie und die Physiologie, und zwar nicht nur auf diese, sondern, wie ich gezeigt habe, zugleich auf die Physik, die Mechanik, die Chemie u. s. f.; die mechanische und die chemische Technologie auf die Mechanik und die Chemie, indess nicht nur auf diese, sondern ebensowohl auf die Physik, die Mathematik u. s. f.; und endlich die praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft (die Volkswirthschaftspolitik und die Finanzwissenschaft!) in erster Reihe auf die theoretische Volkswirthschaftslehre — indess nicht nur auf diese, sondern auf alle jene theoretischen Wissenschaften, deren Kenntniss zur Feststellung der Grundsätze zum zweckmässigen Handeln auf dem Gebiete der Volkswirthschaft erforderlich ist.

So beschaffene praktische Wissenschaften haben ihren „Rang“ im Kreise der Wissenschaften durch sich selbst — sie bedürfen nicht einer anderen, als der eben dargestellten „Erhebung“, am wenigsten der Schmoller’schen zu theoretischen Wissenschaften.

Schmoller gehört zu jenen Gelehrten, welche 59 eine unüberwindliche Abneigung gegen die Behandlung aller aus der Natur der einzelnen Wissenschaften sich ergebenden Probleme haben. Keine Wissenschaft ist ihm in dieser Rücksicht gut genug. Er möchte die Theorie der Volkswirthschaft zu einer historischen, die praktische Volkswirthschaftslehre zu einer theoretischen Wissenschaft erheben. Wäre er ein Historiker vom Fache, er würde die Geschichte zu einer „Naturwissenschaft“, wäre er ein Therapeutiker, er würde seine Disciplin zu einer „Physiologie“, betriebe er die Botanik, er würde dieselbe ohne Zweifel zu einer „Zoologie des Pflanzenreiches“ zu „erheben“ suchen.

Er ist das Prototyp der „problematischen Natur“ auf dem Gebiete der Wissenschaft.

_____________________________

(1) Untersuchungen, S. 257.