1930-1939

Wirtschaftsordnung und politische Verfassung (1936)
Londoner Ausgabe der Schriften von Karl Menger (1936)
Der Weg der österreichischen Finanzpolitik (1935)
Die Österreichische Nationalökonomie (1934)
Das Währungsproblem (1934)

Wirtschaftsordnung und politische Verfassung (1936)

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Quelle: Wiener Wirtschaftswoche. 5 (1936) S. 51-53

Wirtschaftlicher und politischer Liberalismus sind einer Art und eines Stammes und sind als Einheit in die Geschichte getreten. Erst in der II. Hälfte des XIX. Jahrhunderts begannen politische Parteien zu glauben, daß es auf die Dauer mit Erfolg möglich wäre, politischen Liberalismus und Demokratie mit interventionistischer, etatistischer und sozialistischer Wirtschaftspolitik zu verbinden. An dieser Auffassung wird in Westeuropa und in den USA noch heute festgehalten. Sie ist die Quelle der herrschenden Verwirrung aller politischen und wirtschaftspolitischen Vorstellungen und Begriffe. In den letzten Jahrzehnten – das wird wohl kaum bestritten werden – ging die Abkehr vom wirtschaftspolitischen Liberalismus Hand in Hand mit der Abkehr vom Parlamentarismus und mit der Beschränkung der politischen Freiheitsrechte der Staatsbürger. Sowjetrußland, das auch in der Abkehr vom wirtschaftspolitischen Liberalismus an der Spitze steht, hat zuerst die Diktatur proklamiert, Parlamentarismus und Freiheit als „bürgerliche Vorurteile“ verfehmt und alle Einrichtungen beseitigt, die dem einzelnen Schutz gegen Willkür der Obrigkeit bieten sollten. Kein zweiter Staat ist soweit gegangen, weder in der Beseitigung des Sondereigentums noch in der Aufrichtung des schrankenlosen Despotismus der Machthaber. Doch dem russischen Beispiel sind viele andere Staaten gefolgt, wenn auch mit weniger Radikalismus und vor allem auch mit weniger Grausamkeit und weniger Blutvergießen. Jahr für Jahr gewinnt die Diktatur, verlieren Parlamentarismus und Demokratie an Boden. Noch vor kurzem haben manche Engländer die Auffassung vertreten, daß Westeuropa und die von Westeuropäern begründeten überseeischen Staatswesen gegen alle Diktaturbestrebungen gefeit wären. Die Völker, die die moderne Kultur geschaffen hätten, würden – meinten sie – nie auf so wesentliche Elemente dieser Kultur wie Repräsentativverfassung und Freiheitsrechte der Staatsbürger verzichten wollen. Heute ist die parlamentarische Verfassung Frankreichs bereits ernstlich bedroht, in England selbst, dem Lande des Habea Corpus, erhebt eine Diktaturpartei ihr Haupt und in den USA glaubt ein großer Erzähler seine Landsleute vor der Gefahr des Verlustes ihrer Freiheitsrechte warnen zu müssen. Besonders die letzten Jahre waren durch einen ununterbrochenen Siegeszug des Interventionismus auf der einen Seite und der Diktatur auf der anderen Seite gekennzeichnet. Ist das zufällige Gleichzeitigkeit oder besteht hier ein sachlicher Zusammenhang? Die auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln beruhende Markt- und Verkehrswirtschalt ist demokratische Ordnung. Jeder Groschen stellt einen Stimmzettel dar. Die Konsumenten leiten durch ihr Verhalten beim Kauf und durch ihre Enthaltung vom Kaufen den Mechanismus dieses Systems. Unternehmer und Kapitalisten sind genötigt, die Weisungen, die ihnen der Verbraucher auf dem Markt gibt, zu befolgen. Sind sie nicht befähigt, den Wünschen des Marktes auf das beste und billigste nachzukommen, dann erleiden sie Verluste und werden dadurch schließlich, wenn sie nicht rechtzeitig umlenken, aus ihrer bevorzugten Stellung in andere Stellungen geschoben, wo sie nicht länger über Produktionsmittel zu verfügen haben und daher nicht mehr schaden können. Der Markt wählt die Unternehmer und Kapitalisten, er macht sie reich und kann sie, wenn sie sich nicht den Bedürfnissen des Verbrauchs anzupassen verstehen, wieder arm machen und absetzen. Es ist wahr, auf dem Markt herrscht zwar allgemeines, doch nicht gleiches Stimmrecht. Mit der Größe des Einkommens wächst auch die Stimmbefugnis. Doch diese bessere Stimmbefugnis ist schon selbst ein Ergebnis der Wahlakte des Marktes. Sie kann nur erworben und erhalten werden durch Bewährung auf dem Markt, durch die erfolgreiche, den Wünschen der Verbraucher entsprechende Verwendung der Produktionsmittel. Eigentum ist in der durch Eingriffe nicht behinderten kapitalistischen Wirtschaft das Ergebnis eines täglich erneuerten Plebiszits der Konsumenten, das ein imperatives und widerrufliches Mandat erteilt. Auch der aus vorkapitalistischen Zeiten übernommene Reichtum der Gutsbesitzer, der anderen Ursprungs ist, muß sich dieser Wahl stellen, um bestätigt zu werden; auch das Grundeigentum ist dem Gesetz des Marktes unterworfen.

Dieser demokratischen Verfassung des Marktes entspricht in der Staatsverfassung die politische Demokratie. So wie der Staatsbürger als Konsument darüber entscheidet, wer die Produktion seinen Bedürfnissen gemäß leiten soll, und so wie er den Unternehmer und den Kapitalisten, die sich seinen Wünschen nicht fügen, durch andere Männer ersetzt, so ist es in die Hand des Wählers gegeben, politische Führer, die nicht dorthin führen wollen, wohin er gehen will, durch andere zu ersetzen. Wie der Markt dafür sorgt, daß die Produktion gemäß den Wünschen der Konsumenten geführt werde, so sorgt die demokratische Verfassung dafür, daß die Regierungsgewalt in Uebereinstimmung mit den politischen Idealen der Wähler ausgeübt werde. Nun hat die politische Demokratie gegen die wirtschaftliche Demokratie des Marktes entschieden. Man mag es bedauern oder begrüßen, man darf es aber doch wohl nicht bestreiten, daß die öffentliche Meinung heute die kapitalistische Marktwirtschaft durch ein System ersetzen will, in dem nicht mehr das Spiel des Marktes, sondern das Wirken der Obrigkeit Produktion und Verteilung leiten soll. Man will, wie ein allgemein verwendetes Schlagwort marxistischer Prägung sagt, nicht länger mehr die „Anarchie der Produktion“, d. i. die Herrschaftslosigkeit, die Freiheit des Marktes, dulden; man will Interventionismus, Etatismus, Planwirtschaft und Sozialismus. Jedes Wahlergebnis bestätigt es von neuem, daß die Massen nicht Kapitalismus, sondern Zwangswirtschaft wollen. Und auch in den Diktaturstaaten, in denen nicht gewählt wird, kann über die Willensrichtung der Massen kein Zweifel walten. Man mag behaupten, daß unbeeinflußte Wahlen im Deutschen Reich ein anderes Ergebnis zeitigen würden als das, das die letzten Wahlgänge gebracht haben. Doch niemand wird wohl annehmen wollen, daß die deutsche Opposition die Rückkehr zum Kapitalismus anstrebt. Sie will ebenfalls Plan- und Zwangswirtschaft, wenn auch unter der Leitung anderer Führer und zu anderen außen- und innerpolitischen Zwecken. Der unlösbare Widerspruch in der Politik der „Linksparteien“ Englands, Frankreichs und der USA ist, daß sie Planwirtschaft anstreben und sich nicht Rechenschaft darüber geben wollen, daß sie damit auch der Diktatur und der Aufhebung der bürgerlichen Freiheitsrechte den Weg bahnen. Die Begriffsverwirrung ist bei ihnen so weit gediehen, daß sie im Bunde mit Sowjetrußland für die Rettung der Demokratie kämpfen wollen. Daß demokratische Verfassung und Freiheit des einzelnen in einem Staatswesen, dessen Wirtschaft die Obrigkeit leitet, sinnlos sind, haben die Anhänger jener Diktaturen, die man die faschistischen nennt, klar erkannt und ausgesprochen. Die Nationalsozialisten argumentieren: Wenn es dem Bauer nicht mehr freisteht, seinen Acker so zu bestellen, wie er will, und über die Erzeugnisse des Bodens zu verfügen, wenn es dem Unternehmer nicht mehr gestattet ist, in seinem Betrieb nach seinen Ideen zu schalten, dann kann es auch den Schriftstellern, den Künstlern, den Gelehrten nicht gestattet werden, so zu schaffen, wie sie es wollen. Wenn die Wirtschaft ganz in der Hand der Obrigkeit liegt, dann kann die Obrigkeit die Veröffentlichung aller ihr nicht genehmen Geisteserzeugnisse verhindern und die Ausübung aller Kulte, die sie nicht billigt, unterdrücken. Selbst die ausdrückliche Anerkennung der Gewissensfreiheit und der Freiheit der Forschung und der Meinungsäußerung könnte da nicht helfen. Die Machtfülle des totalitären Staates ist so groß, daß er ohne Aufsehen jedem Mißliebigen alle Wirkungsmöglichkeit nehmen kann. Der Tyrannei des Duodezherzogs von Württemberg konnte Schiller sich durch die Flucht in das nahegelegene „Ausland“ entziehen. Wo wird sich dem verfolgten Genius eine Zufluchtsstätte öffnen, wenn alle Staaten totalitär geworden sein werden?

Die Paradoxie der Geschichte der letzten Menschenalter lag darin, daß die vom Liberalismus geschaffene Demokratie zur Aufhebung der Wirtschaftsfreiheit und damit zugleich auch zur Aufhebung der politischen Demokratie führte. Diese Entwicklung stellt William E. Rappard in meisterhafter Weise am Beispiel seines Schweizer Vaterlandes dar. Kein anderer Mann hätte ein solches Werk schaffen können. Der Herkunft nach romanischer Westschweizer, Kulturbürger aller 3 Bildungskreise seiner Heimat, durch Lehrtätigkeit an der vornehmsten und ältesten Hochschule der Neuen Welt dem angelsächsischen Wesen verbunden, hat Rappard nicht nur als Forscher und Lehrer gewirkt. Als schweizerischer Staatsmann und als glänzendster Vertreter jenes Genfer Internationalismus, der an der Befriedung dieser waffenstarrenden Welt arbeitet, hat er die Geschichte unserer Zeit als Mithandelnder erlebt. Trocken und sachlich schildert Rappard in seinem neuen Buch „L’individu et l’etat dans l’évolution constitutionelle de la Suisse“ den Weg der Schweiz vom Patriziat des XVIII. Jahrhunderts über Kriege, Revolutionen und Parteikämpfe zum Liberalismus und zur Demokratie der Verfassungen von 1848 und 1874. Klar tritt hervor, wie die Heranziehung aller Staatebürger zur Ausübung der politischen Rechte, die den Abschluß der Entwicklung zur politischen Demokratie darstellt, zugleich den Ausgangspunkt bildete für die neue Politik des wirtschaftlichen Interventionismus, die nun der politischen Demokratie gefährlich wurde. Rappard spricht immer nur als Historiker, der dem Rankeschen Grundsatz huldigt, schlicht darzustellen, wie es gewesen ist. Erst im Schlußkapitel formuliert er das Problem, vor das sich die Schweiz heute gestellt sieht. Es gelte zu wählen. „Sollen“ – fragt Rappard – „unsere liberalen und demokratischen Errungenschaften unserem Etatismus geopfert werden? Oder wollen wir unseren Etatismus unserer Liebe zur Freiheit und unserem Willen zur Selbstregierung zum Opfer bringen?“ Der Notwendigkeit dieser Entscheidung könne sich, meint Rappard weiter, die Schweiz nicht entziehen. Denn in den Wegen der bisherigen Politik könne es nicht weitergehen. Dieser Etatismuis lebe von der Aufzehrung des durch die kapitalistische Wirtschaft geschaffenen Reichtums. Er habe die Lebenskosten außerordentlich erhöht, einen kostspieligen Verwaltungsapparat geschaffen, betreibe Hochschutzzollpolitik, führe Defizitwirtschaft in den Bundesbahnen und im Alkoholmonopol, verteile mit freigebiger Hand Subventionen bald an eine, bald an eine andere Gruppe, immer aber an die Landwirtschaft. Man müsse entweder den Etatismus wegen seiner finanziellen Unzulänglichkeit aufgeben oder aber trachten, ihn nach dem Beispiel Rußlands, Deutschlands und Italiens „produktiv“ zu gestalten. Das aber könne ohne irgendeine Art von Diktatur nicht gehen, da das Schweizer Volk nicht geneigt sein werde, freiwillig seine, Lebenshaltung herabdrücken zu lassen. Niemand hat bisher das politische und wirtschaftspolitische Problem unserer Zeit so klar und mit so unerbittlicher Folgerichtigkeit formuliert wie Rappard. Vor dieser Formulierung brechen die Dogmen und Illusionen zusammen, die jahrzehntelang die Politik der Kulturstaaten beherrscht haben. Denn für England, Frankreich und die USA liegen die Dinge nicht anders als für die Schweiz. So gewinnt das Werk Rappards über die geographischen, historischen und sachlichen Grenzen des behandelten Gegenstandes hinaus allgemeine Bedeutung. Es ist ein Buch, das dem politischen Denken der zu staatsbürgerlichem Wirken herangereiften Generation den Weg weisen wird.