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2.2. Sicherheit: Recht und Strafrecht; Rechtsdurchsetzung und Rechtsfrieden

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[S.118] Das vorstehend dargestellte Rechts- und Strafrechtssystem soll aufgrund einer gesellschaftlichen Sicherheitsstruktur durchgesetzt werden.[FN36] Was ist Voraussetzung dafür, daß angesichts dieses Rechtssystems ein Sicherheitssystem entsteht? Oder umgekehrt: Wann würde man kein gesellschaftliches Sicherheitssystem benötigen? – Dies ist zum einen offensichtlich dann der Fall, wenn faktisch niemand gegen die Regeln verstößt oder zu verstoßen versucht. Warum sollte irgendjemand in einer solchen Situation ein Sicherheitssystem aufrechterhalten wollen?! Doch auch wenn Regelverstöße faktisch erfolgen und das Auftreten eines Interesses an der Etablierung einer Sicherheitsstruktur von daher als realistisch unterstellt werden kann, müssen weitere Voraussetzungen vorliegen, um mehr als ein bloßes Interesse an der Prävention von Regelbrüchen aufkommen zu lassen, Wenn es nämlich zu keinerlei Disputen bezüglich der rechtlichen Beurteilung von Handlungen zwischen Personen kommt, sondern alle Personen jederzeit, sofern sie sich von einer Handlung berührt fühlen, diese einheitlich entweder als gerecht oder als ungerecht beurteilen, dann gibt es jedenfalls kein Interesse an einem System der Rechtsprechung (als einem, neben Prävention, weiteren Element einer Sicherheitsstruktur). Und wenn es so sein sollte, daß niemand den Folgen eines einheitlich als solchen beurteilten Regelverstoßes sich zu entziehen sucht bzw. sich faktisch entzogen hat, sondern stets in vollem Umfang eine nach dem Proportionalitätsprinzip festgelegte Strafe auch getragen wird, dann gibt es kein Interesse an einem System des Rechtsvollzugs (als einem weiteren Element eines Sicherheitssystems)!

Damit ein Interesse an einem (vollständigen) Sicherheitssystem entsteht, müssen demnach folgende Voraussetzungen erfüllt sein: die Gefahr von Regelverletzungen muß von Personen – in aller Regel wohl aufgrund von Erfahrungen – als realistisch angesehen werden: ebenso muß – wiederum wohl in der Regel durch Erfahrungen angeregt – das Auftreten von Rechtsdisputen als realistisch gelten; und das Auftreten von Situationen muß denkbar erscheinen, in denen Täter sich ihrer gerechten [S.119] Strafe zu entziehen versuchen und Opfer ihrer Entschädigung etc. nicht mehr sicher sein können (darüber hinaus muß natürlich unterstellt werden, daß Personen ein bestimmte Zeitspannen überbrückendes Gedächtnis besitzen: man muß sich daran erinnern können, daß man das Opfer von Aggression gewesen ist, und daß man Ansprüche gegenüber anderen Personen besitzt, die sich in der Vergangenheit aggressiver Handlungen schuldig gemacht haben – ansonsten kein Interesse an Sicherheit).[FN37]

Das Interesse an einer gesellschaftlichen Produktion von Sicherheit von dem hier die Rede ist, ist immer das Interesse unterschiedlicher Personen, mit unterschiedlichen Erfahrungen bezüglich Art und Umfang von Sicherheitsrisiken (und diese Personen leben im übrigen an unterschiedlichen Plätzen). Von einem einheitlichen Interesse an einem homogenen Gut Sicherheit kann keine Rede sein. Weder ist das Interesse einheitlich, noch das Gut homogen. Das Interesse an Sicherheit kann von Person zu Person, selbst bei ähnlichen Erfahrungen und ähnlichen Lebensräumen, in seiner Gewichtung gegenüber anderen persönlichen Interessen unterschiedlich ausfallen; und selbst bei gleicher Gewichtung ist es möglich, daß es sich jeweils andersartig auf die verschiedenen Dimensionen des Gutes Sicherheit richtet.[FN38] Die Funktion des GWAP besteht (in bezug auf das Gut Sicherheit nicht anders als in bezug auf alle übrigen Güter) darin, angesichts dieser Interessenvielfalt ein hinsichtlich des Gemeinwohls optimales Angebot an Sicherheit im Vergleich zu anderen Gütern zu gewährleisten, d. i. weder (gemessen an den freiwilligen Handlungen von Personen) ein Überangebot an Sicherheit, noch ein Unterangebot, das jeweils auf Kosten oder zugunsten anderer, in den subjektiven Wertschätzungen mit Sicherheit konkurrierender Güter ginge, zu erzeugen; und ebenso besteht seine Funktion darin, innerhalb des vieldimensionalen Gutes Sicherheit jeweils eine sozial optimale Gewichtung der einzelnen Sicherheitsaspekte, durch eine entsprechende Allokation von Mitteln zur Herstellung des jeweiligen Aspekts, zu realisieren.

In dem Ausmaß, in dem Personen besonders risikofreudig sind, oder faktisch geringen Risiken ausgesetzt, oder in dem sie glauben, selbst über genügend Ressourcen zur Durchsetzung eigener Rechtsansprüche zu verfügen, werden sie nur geringere Aufwendungen für nötig erachten, und die Produktion des Gutes Sicherheit vielleicht im Alleingang unternehmen (immer wohl wissend, daß man im Fall einer Fehleinschätzung, und bei Nicht-Bestehen anderslautender vertraglicher Vereinbarungen, keinen rechtlichen, sondern allenfalls einen moralischen Anspruch auf Hilfe seitens anderer Personen hat!). In dem Ausmaß dagegen, in dem Personen eher als risikoscheu einzustufen sind, oder auch faktisch größeren Risiken ausgesetzt, und [S.120] sie ihre eigenen Ressourcen nicht als ausreichend für Zwecke der Rechtsdurchsetzung ansehen, werden sie dazu neigen, sich der bekannten Vorteile arbeitsteiliger Produktion zu bedienen und Raum bieten für spezialisierte unternehmerische Aktivitäten auf dem Gebiet einer massenhaften und hinsichtlich des Angebots zugleich diversifizierten Sicherheitsproduktion.

Solche unternehmerischen Aktivitäten treten auf, wenn Personen die Chance wahrnehmen, bestimmte Sicherheitsleistungen absetzen und Erlöse erzielen zu können, die über den Kosten für ihre Herstellung liegen; und wenn außerdem keine bessere (an subjektiven Bewertungsstandards gemessen: bessere) Alternativverwendung für die zur Sicherheitsproduktion erforderlichen Produktionsfaktoren wahrgenommen wird.[FN39] Ist dies der Fall, so werden z.B. Anbieter für präventive Sicherheitsmaßnahmen auftreten: Anbieter von Patrouillien, Body-Guard-Services, Schlösser, Warnanlagen, etc.; Anbieter treten auf, die ihre Dienste als Rechtsprecher offerieren, weil sie glauben hierfür eine genügend große Nachfrage auf Seiten von Opfern annehmen zu dürfen, die, um Rechtsansprüche durchsetzen zu können, nicht allein faktisch rechthaben, sondern auch Interesse daran haben müssen, dass die Rechtslage in einem Disput öffentlich und nach allgemein als fair akzeptierten Verfahrensregeln bekanntgemacht wird, um sich vor ungerechtfertigten, d.i. von einer falschen Einschätzung der faktischen Rechtslage ausgehenden Eingriffen Dritter in die Abwicklung eines Zweiparteien-Disputs zu schützen;[FN40] es treten Unternehmer auf, die Leistungen des Rechtsvollzugs anbieten (Ergreifung von Tätern, Eintreibung von Kompensationsforderungen, Vollstreckung retributiver Maßnahmen), wenn eine hierfür erforderliche Nachfrage von Seiten potentieller und vor allem tatsächlicher Opfer wahrgenommen wird; und schließlich kann das Auftreten von Versicherungsunternehmen (i. e. S.) erwartet werden, wenn man ein Interesse bei potentiellen Opfern dafür wahrnehmen sollte, im Fall der Nicht-Ergreifung oder Zahlungsunfähigkeit von Tätern abgesichert zu sein.

Aufgrund von Erfahrungen läßt sich getrost konstatieren: entsprechende Interessen gibt es! Zweifellos würde sich in Gesellschaften, wie man sie kennt, eine Sicherheitsstruktur herausbilden, die sowohl präventive, rechtsprechende, und -vollziehende (einschließlich versichernder) Leistungen durch spezialisierte Unternehmungen anbietet. Die Befürchtung Hobbes’, ein staatsloser Zustand müsse zum Krieg aller gegen alle führen, ist allein von daher als wenig realistisch einzustufen. Sollten Personen Interesse an Sicherheit haben (und das unterstellt Hobbes), so ist es kaum erfindlich, warum sie nicht auch im Rahmen gewaltloser Interaktion etwas zur Befriedigung dieses Interesses tun sollten (könnten), so wie sie es auch im Hinblick auf Tausende von anderen Dingen tun.[FN41]

[S.121] Das genaue Aussehen der sich unter Geltung des GWAP herstellenden gesellschaftlichen Sicherheitsstruktur ist und bleibt freilich unvoraussagbar: die Zahl der Unternehmen und ihr organisatorischer Aufbau; Art, Umfang und Preis von Leistungen; die Bedeutung der Sicherheitsindustrie im Vergleich zu anderen Industrien, etc., etc. sind unbestimmbar. Solange die Sicherheitsindustrie, wie immer sie aussehen mag, und wie immer sie sich im Zeitverlauf verändern sollte, freifinanziert, und also in ihrer Existenz unmittelbar davon abhängig ist, inwieweit die von ihr angebotenen Leistungen von freiwillig austauschenden Konsumenten nachgefragt werden, solange ist eine gesellschaftliche Sicherheitsversorgung jedoch optimal, denn solange ergibt sie sich auf niemandes Kosten: ein Mehr oder ein Weniger an Sicherheit, oder eine andere Struktur des Sicherheitsangebots könnte demgegenüber nur dadurch bewerkstelligt werden, daß eine Personengruppe die von einer anderen Personengruppe ausgehende Nachfragestruktur bezüglich Sicherheit und anderer, mit Sicherheit konkurrierender Güter, gewalttätig verzerrt.