Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen (1920)

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Quelle: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 47 (1920) S.86-121

Einleitung S. 86 – I. Die Verteilung der Konsumgüter im sozialistischen Gemeinwesen S. 87 – II. Das Wesen der Wirtschaftsrechnung S. 93 – III. Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen S. 104 – IV. Verantwortung und Initiative im gemeinwirtschaftlichen Betrieb S. 109 – V. Die jüngste sozialistische Doktrin und das Problem der Wirtschaftsrechnung S. 114 – Schluß S. 119

Einleitung
I. Die Verteilung der Konsumgüter im sozialistischen Gemeinwesen
II. Das Wesen der Wirtschaftsrechnung
III. Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen
IV. Verantwortung und Initiative im gemeinwirtschaftlichen Betrieb

Einleitung

Viele Sozialisten haben sich nie mit nationalökonomischen Fragen befaßt, haben es nie versucht, sich über die Bedingungen unter denen die Menschen wirtschaften, Klarheit zu verschaffen. Andere wieder haben sich sehr eingehend mit der Volkswirtschaft der Vergangenheit und der Gegenwart beschäftigt und haben sich bemüht, ein System der Wirtschaft der »bürgerlichen« Gesellschaft aufzustellen. Sie schwelgten in der Kritik der ökonomischen Verhältnisse der »freien« Wirtschaft, haben es aber regelmäßig unterlassen, die ätzende Schärfe, die sie hier – nicht immer mit Erfolg – bekundet haben, auch auf die Oekonomie der angestrebten sozialistischen Gesellschaft anzuwenden. In den farbenprächtigen Schilderungen der Utopisten kommt das eigentlich Oekonomische immer zu kurz. Sie verkünden, daß in ihrem Schlaraffenland die gebratenen Tauben den Genossen in den Mund fliegen werden, aber sie unterlassen es leider zu zeigen, auf welche Weise dieses Wunder zustande kommen soll. Wo sie im Oekonomischen deutlicher zu werden beginnen, leiden sie schnell Schiffbruch – man erinnere sich etwa an Proudhons Tauschbank-Phantasien –, so daß es nicht schwer fällt, ihre logischen Schnitzer aufzuzeigen. Wenn der Marxismus seinen (87) Gläubigen feierlich verboten hat, sich mit den Problemen der Wirtschaft, die jenseits der Expropriation der Expropriateure liegt, zu befassen, so hat er damit eigentlich nichts Besonderes getan, denn auch die »Utopisten« haben in ihren Schilderungen das Wirtschaftliche vernachlässigt und ihre Aufmerksamkeit allein der Ausmalung der äußeren Zustände und der selbstverständlich günstigsten Folgen der Neuordnung der Dinge zugewendet.

Gleichviel nun, ob man das Kommen des Sozialismus als eine unentrinnbare Notwendigkeit der menschlichen Entwicklung erkennt oder nicht, und ob man von der Vergesellschaftung der Produktionsmittel höchstes Glück oder tiefstes Unglück für die Menschen erwartet, wird man doch zugeben müssen, daß Untersuchungen über die Bedingungen eines Wirtschaftsbetriebes auf sozialistischer Grundlage nicht nur »für eine gute Denkübung und für ein Mittel, politische Klarheit und Beständigkeit zu fördern«(1) zu halten sind. In einer Zeit, da wir uns dem Sozialismus immer mehr und mehr nähern, ja in gewissem Sinne schon in ihm mitten drin stehen, gewinnt die Untersuchung der Probleme der sozialistischen Wirtschaft auch Bedeutung für die Erklärung dessen, was um uns herum vorgeht. Für das Verständnis der volkswirtschaftlichen Erscheinungen des heutigen Deutschland und seiner östlichen Nachbarländer reicht das, was uns die Analyse der Verkehrswirtschaft an die Hand gibt, lange nicht mehr aus. Wir müssen hier schon in recht beträchtlichem Umfange Elemente des sozialistischen Gemeinwesens heranziehen. Versuche, sich über das Wesen der sozialistischen Wirtschaft Klarheit zu verschaffen, bedürfen unter solchen Umständen keiner besonderen Rechtfertigung.

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(1) vgl. Kautsky, Die soziale Revolution. 3. Aufl. Berlin 1911. II. S. 1.