Soziologie und Geschichte (1929)

Epilog zum Methodenstreit in der Nationalökonomie.

Quelle: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik 61. 3 (1929) 465-511.

Anmerkung: Mises verwendet hier den Begriff „Soziologie“ in dem Sinne, dem er später den Namen „Praxeologie“ gab. Bitte beachten Sie, dass der HTML Text zu Kapitel III. Idealtypus und soziologisches Gesetz nicht aus dem o. g. Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik entstammt, die angegebenen Seitenzahlen und Fußnoten beziehen sich deshalb in diesem Kapitel auf die Seitenzahlen und Fußnoten des Aufsatzes im Sammelband "Grundprobleme der Nationalökonomie".

Inhaltsübersicht: Einleitung. - I. Das methodologische und das logische Problem. - II. Der logische Charakter der Geschichtswissenschaft. - III. Idealtypus und soziologisches Gesetz. - IV. Die Wurzel der Irrtümer über den logischen Charakter der Nationalökonomie. - V. Geschichte ohne Soziologie. - VI. Allgemeine Geschichte und Soziologie. - VII. Soziologische Gesetze und historische Gesetze. - VIII. Qualitative und quantitative Analyse in der Nationalökonomie. - IX. Die Allgemeingültigkeit soziologischer Erkenntnis. - Schluß.

Dieser Aufsatz wurde auch in den Sammelband 'Grundprobleme der Nationalökonomie' aufgenommen.

 

Einleitung
I. Das methodologische und das logische Problem
II. Der logische Charakter der Geschichtswissenschaft
III. Idealtypus und soziologisches Gesetz
IV. Die Wurzel der Irrtümer über den logischen Charakter der Nationalökonomie

Einleitung

(465) Der Rationalismus hat den Wissenschaften, die sich mit dem menschlichen Handeln befassen, zwei umwälzende Neuerungen gebracht. In die Geschichte, die bis dahin die einzige Wissenschaft vom menschlichen Handeln gewesen war, führte er das kritische Verfahren ein; er löste sie von der naiven Bindung an das in Chroniken und Geschichtswerken der Vorzeit Ueberlieferte los, lehrte sie neue Quellen – Dokumente, Inschriften und manches andere – heranzuziehen und an allen Quellen Kritik zu üben. Das, was die Geschichtswissenschaft damit gewonnen hat, kann ihr nicht wieder verloren gehen; es ist ihr auch nie streitig gemacht worden. Auch die in jüngster Zeit unternommenen Versuche, Geschichte zu »schauen«, können sich davon nicht losmachen. Geschichte kann immer nur auf Grund von Quellen erforscht werden, und daß man dem Stoff kritisch gegenübertreten muß, wird niemand ernstlich in Frage stellen wollen. Zweifel kann nur das »Wie«, nie auch das »Ob« der Quellenanalyse und Quellenkritik erwecken.

Die andere große Errungenschaft des Rationalismus war die Ausbildung einer theoretischen Wissenschaft vom menschlichen Handeln, d. h. einer auf die Gewinnung allgemeiner Gesetze des menschlichen Verhaltens hinarbeitenden Wissenschaft. Auguste Comte verdankt diese Wissenschaft nichts weiter als ihren Namen. Ihre Grundlagen waren schon im 18. Jahrhundert gelegt worden. Denker des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts haben vor allem den bis heute am besten ausgestalteten Teil der Soziologie, die nationalökonomische Theorie, auszubauen gestrebt; sie haben aber auch die Grundlagen (466) für ein über das engere Gebiet der ökonomischen Theorie hinausgehendes, das Ganze der Soziologie umfassendes System zu schaffen gesucht.(1)

Die grundsätzliche Zulässigkeit und Möglichkeit soziologischer Betrachtungsweise ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestritten worden. Man hat es nicht gelten lassen wollen, daß es von der geschichtlichen Umwelt unabhängige Gesetze des menschlichen Handelns geben kann, und hat demgemäß die Geschichtswissenschaft als die allein zur Behandlung des Erfahrungsobjektes »menschliches Handeln« berufene Wissenschaft bezeichnet. Dieser Angriff gegen die Daseinsberechtigung der Soziologie richtete sich nahezu ausschließlich gegen die Nationalökonomie; daß die Nationalökonomie nur ein Teilstück einer über ihr Gebiet hinausreichenden umfassenderen, denselben logischen Charakter aufweisenden Wissenschaft, der Soziologie, sein könnte, wurde den Angreifern nicht bewußt. Als dann später die Soziologie in Deutschland bekannter wurde und man daran ging, auch gegen das Ganze der Soziologie Sturm zu laufen, wurde der Umstand, daß auch die Soziologie mit demselben Anspruch auf Allgemeingültigkeit ihrer Aussagen auftritt wie die Nationalökonomie, nicht beachtet; man war mittlerweile, unter dem Eindrucke der Ablenkung, die die Problemstellung in der Behandlung durch Windelband, Rickert und Max Weber erfahren hatte, dahin gelangt, den logischen Charakter der Soziologie anders aufzufassen.

Die Ablehnung der Soziologie und ihres Teiles, der Nationalökonomie, hatte auch, vielleicht in erster Reihe, politische Gründe; bei manchen, wie z. B. bei Schmoller, Brentano und Hasbach, haben sie wohl den Ausschlag gegeben.(2) Man wollte politische und wirtschaftspolitische Forderungen vertreten, die sich als widersinnig – nicht etwa vom Standpunkte irgendwelcher anders eingestellter Wertungen, sondern gerade vom Standpunkte derer, die mit ihnen bestimmte Ziele zu erreichen strebten – erweisen mußten, wenn man sie einer Prüfung durch die Mittel der nationalökonomischen Theorie unterzogen hätte. Der Interventionismus konnte nur dem als sinnvoll erscheinen, der sich über alles, was die Nationalökonomie gebracht hatte, hinwegsetzte; jedem andern mußte es klar sein, daß die interventionistische Politik ihre Ziele nicht erreichen kann.(3) Was Bismarck in der Reichstagsrede vom 2. Mai 1879, mit der er seine Finanz- und Wirtschaftspolitik zu rechtfertigen suchte, ausdrückte, daß er in allen diesen Fragen von der Wissenschaft gerade so wenig halte wie in irgendeiner anderen Beurteilung organischer Bildungen, daß ihn die abstrakten Lehren der Wissenschaft in dieser Beziehung vollständig kalt ließen und daß er »nach der Erfahrung, die wir erleben« urteile,(4) (467) das verkündete die historisch-realistische Schule der wirtschaftlichen Staatswissenschaften mit mehr Worten, aber kaum mit besseren Argumenten. Doch der Bestreitung des Wissenschaftscharakters der Soziologie lagen jedenfalls auch sachliche Bedenken zugrunde. Nur mit diesen haben es die folgenden Erörterungen zu tun.

Methodologische und erkenntnistheoretische Ausführungen können auf zwei verschiedene Weisen verankert werden. Man kann versuchen, bis zu den letzten Problemen der Erkenntnistheorie hinabzusteigen, um festen Boden zu finden. Dieses Verfahren wäre zweifelsohne das beste, wenn es Erfolg versprechen würde, wenn man hoffen dürfte, in der Tiefe wirklich festen Grund zu finden. Man kann aber auch einen anderen Weg nehmen, indem man von den konkreten Begriffen und Urteilen der Wissenschaft ausgeht und sie auf ihren logischen Charakter prüft. Daß man auf diese Weise niemals zur Erkenntnis der letzten Grundlagen unseres Wissens zu gelangen vermag, ist klar; aber das bietet der erste Weg auch nicht. Hingegen bewahrt uns der zweite Weg vor dem Schicksal, das den meisten Untersuchungen widerfahren ist, die in den letzten Jahren den methodologischen und erkenntnistheoretischen Fragen unserer Wissenschaft gewidmet wurden: daß sie nämlich über der mit den beschränkten Mitteln des menschlichen Geistes nicht zu meisternden Schwierigkeit der letzten Probleme der Erkenntnistheorie gar nicht dazu gelangt sind, sich mit den – vergleichsweise leichter lösbaren – logischen Aufgaben der Soziologie zu befassen.

Die Aufgabe, die den folgenden Ausführungen gestellt ist, ist von vornherein viel enger umgrenzt als die, die sich jene Untersuchungen gesteckt haben. Sie sollen nicht zu den Müttern hinabsteigen, sie sollen nicht die letzten Fragen der Erkenntnis bereinigen. Sie sollen nur darlegen, was Soziologie sein will und mit welchem Geltungsanspruch sie ihre Begriffe bildet und ihre Urteile fällt. Daß dabei vor allem die nationalökonomische Theorie in Betracht gezogen werden soll, bedarf wohl keiner besonderen Rechtfertigung; ist diese doch jenes Teilgebiet der Soziologie, das bis nun am besten ausgebaut wurde und die höchste systematische Geschlossenheit erreicht hat. Den logischen Charakter einer Wissenschaft studiert man am vorteilhaftesten an ihrem höchstentwickelten Teile. Dabei soll nicht, wie es bedauerlicherweise in vielen methodologischen und erkenntnistheoretischen Arbeiten Brauch ist, von der gerade auch in logischer Beziehung unbefriedigenden Formulierung, die die Probleme und Problemlösungen bei den Klassikern gefunden haben, ausgegangen werden, sondern selbstverständlicherweise von dem gegenwärtigen Stande der Theorie.(5)

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(1) Vgl. Kracauer, Soziologie als Wissenschaft, Dresden 1922, S. 20 ff. 

(2) Vgl. Pohle, Die gegenwärtige Krisis in der deutschen Volkswirtschaftslehre, 2. Ausgabe, Leipzig 1921, S. 86 ff., 116 ff.

(3) Vgl. Mises, Interventionismus (Archiv für Sozialwissenschaft, 56. Bd., S. 610 ff.).

(4) Vgl. Fürst Bismarcks Reden, herausgegeben v. Stein (Reclam), VII. Bd., S. 202.

(5) Auch Menger geht in seinen berühmten »Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften« nicht von den modernen Formulierungen der subjektivistischen Nationalökonomie aus, sondern von dem System, der Methodik und der Logik der klassischen Nationalökonomie. Der Uebergang vom klassischen zum modernen System vollzog sich nicht mit einem Schlage, sondern allmähIich; es brauchte geraume Zeit bis er auf allen Teilgebieten des nationalökonomischen Denkens wirksam ward und noch längere Zeit, bis man sich der ganzen Bedeutung des vollzogenen Umschwungs bewußt wurde. Erst dem rückschauenden Dogmenhistoriker erscheinen die Jahre, in denen Menger, Jevons und Walras mit ihren Lehren hervortraten, als der Beginn einer neuen Epoche der Geschichte unserer Wissenschaft.