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Gleichheit und Ungleichheit (1961)
Kapitalbildung und die Lehre vom Wachstum (1961)
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Wirtschaftlicher Liberalismus (1959)
Markt (1959)

Kapitalbildung und die Lehre vom Wachstum (1961)

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Quelle: F. Greiss/F. Meyer (Hg.) Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Festgabe für A. Müller-Armack (1961) 159-165.

I.

Sehen wir von der verschwindend kleinen Schar folgerichtiger Asketen ab, dann dürfen wir behaupten, daß alle Menschen einen Zustand reichlicherer Versorgung mit irdischen Gütern einem Zustand weniger reichlicher Versorgung vorziehen. In diesem Sinne sind Geschichte und Wirtschaftspolitik (nicht auch die Wirtschaftstheorie) berechtigt, von wirtschaftlichem Fortschritt zu sprechen, wenn für die gesamte Menschheit oder für einen ihrer Teile, den sie gesondert betrachtet, die Versorgung und demzufolge auch die durchschnittliche Lebenshaltung verbessert wird. Es muß für den Nationalökonomen nicht besonders hervorgehoben werden, daß solche Veränderungen – ob sie nun Fortschritt oder Rückschritt bedeuten – nicht “gemessen” werden können.

Das einzige Mittel, wirtschaftlichen Fortschritt bewußt herbeizuführen, ist Erhöhung der Ergiebigkeit der menschlichen Arbeit. Das geschieht, um mit Böhm-Bawerk zu sprechen, durch das Einschlagen von Produktionsumwegen, die ein Opfer an Zeit erfordern, doch für dieses Opfer entschädigen durch die Menge und Beschaffenheit der Erzeugnisse. Wirtschaftlicher Fortschritt verlangt reichlichere Ausstattung mit Kapitalgütern und deren zweckmäßigste Verwendung.

Die höhere Lebenshaltung, die die wirtschaftlich vorgeschrittenen Länder von den weniger entwickelten Ländern (“underdeveloped countries” in der amerikanischen Terminologie, “Entwicklungsländer” in der deutschen Terminologie) unterscheidet, ist der reichlicheren Kapitalausstattung zuzurechnen. Das wird von keiner Seite offen bestritten.

Indirekt wird jedoch in der Behandlung der Lohnprobleme eine andere Auffassung vertreten. In den Vereinigten Staaten arbeiten Arbeitgeber, Lohnempfänger, die mit Lohnproblemen befaßten Regierungsorgane und die Professoren des „labor economics" genannten Faches mit einem Begriff “Produktivität der Arbeit”, der die Kapitalinvestition nicht in Betracht zieht. Man dividiert den Geldwert des Produkts durch die Zahl der Arbeiter und nennt den so gefundenen Wert Produktivität der Arbeit. Ergibt sich, daß dieser Wert am Ende einer Periode größer ist als an ihrem Beginn, wird die Differenz Zuwachs der Produktivität der Arbeit genannt. Gewerkschaftsführer, Funktionäre der Unternehmun- (160) gen und der Unternehmerverbände, Professoren und die öffentliche Meinung sind darin einig, daß solch ein Produktivitätszuwachs ganz den Arbeitern gebührt und daß die Löhne entsprechend erhöht werden müssen. Die Lohnverhandlungen drehen sich lediglich um die Feststellung des Tatbestandes, nicht um die grundsätzliche Angemessenheit der Berechnungsmethode oder um die Frage, ob die ganze Differenz zu Lohnerhöhungen zu verwenden sei. Es wird nicht darauf hingewiesen, daß die Produktivitätssteigerung nicht etwa erhöhtem Fleiße oder höherer Geschicklichkeit der Arbeiter, sondern anderen Umständen – in der Regel zusätzlicher Investition, mitunter auch verbesserter Technik in der Ausnützung schon früher verfügbarer Ausrüstung – zuzuschreiben ist. Die Vertreter der Unternehmer widersprechen nicht der Auffassung, die es für überflüssig hält, dem neu investierten Kapital irgendeinen Ertrag zuzugestehen. Gelegentlich wird in der Presse darauf hingewiesen, daß die Steigerung der Produktivität auch den Verbrauchern zugute kommen sollte. Doch niemand fragt, was denn einen Unternehmer veranlassen könnte, Aufwendungen für die Anschaffung von leistungsfähigeren Werkzeugen zu machen, wenn der gesamte Ertragszuwachs durch Lohnerhöhung aufgezehrt wird.

II.

Man hat diese moderne Fassung des “Rechtes auf den vollen Arbeitsertrag” zu beachten, wenn man die Gedankengänge verstehen will, die zur Ausbildung des jüngsten Zweiges wirtschaftspolitischer Betrachtung, der Lehre vom Wachstum, geführt haben. Man spricht nicht mehr von wirtschaftlicher Besserung oder wirtschaftlichem Fortschritt, auch nicht mehr von wirtschaftlicher Entwicklung. Man hat der Biologie den Begriff des Wachstums entlehnt und wendet ihn metaphorisch auf wirtschaftliche Probleme an.

Für die Biologie ist Wachstum ein Gegebenes, das sie nicht auf ein anderes Gegebenes zurückzuführen und in diesem Sinne zu “erklären” vermag. Wir wissen nicht, was es ist, das einen winzigen Keim in eine Pflanze, ein Tier oder einen Menschen wachsen läßt. Wir wissen weder, warum Lebendiges wächst, noch warum es einmal zu wachsen aufhört. Wenn der metaphorischen Verwendung des Begriffes Wachstum irgendein Sinn innewohnt, dann kann es nur der sein, wirtschaftliche Besserung als Ergebnis einer geheimnisvollen, der menschlichen Einwirkung entzogenen Kraft zu beschreiben. Wo der Nationalökonom reichlichere Kapitalausstattung für die Entwicklungsländer fordert, damit sie die Wohlstandsstufe der fortgeschritteneren Länder erreichen, reiht der Wachstumsforscher verschiedene Tatbestände aneinander, die Größenveränderung – Wachstum – aufweisen.

(161) Die Unzulänglichkeit solcher Wachstumsbetrachtung wird offenbar, wenn man feststellt, daß sie als Wachstumserscheinung auch die Bevölkerungszunahme anführt. Bevölkerungszunahme kann die Folge des wirtschaftlichen Fortschritts sein. So hat die beispiellose Vermehrung des Wohlstandes, die die kapitalistische Produktionsweise hervorgebracht hat, die Volkszahl der kapitalistischen Länder vervielfacht. Wenn aber die Zunahme der Bevölkerung der Zunahme der Kapitalausstattung vorauseilt, ist nicht wirtschaftlicher Fortschritt, sondern fortschreitende Verelendung das Ergebnis. In diesem Sinne haben die vielgeschmähten Epigonen der klassischen Nationalökonomie, die Marx als “Vulgärökonomen” zu brandmarken suchte, immer wieder hervorgehoben, daß nichts anderes als eine die Bevölkerungsvermehrung übersteigende Zunahme der Kapitalbildung den Wohlstand der Lohnarbeiter zu heben vermag.(1) Es ist heute jedem, der nicht als Manchestermann in Acht und Bann getan werden will, verwehrt, auf diesen unbestreitbaren Tatbestand hinzuweisen und damit das Interesse der Lohnempfänger an reichlicher Kapitalbildung darzulegen. Doch die Politik aller Entwicklungsländer, ihr Bestreben, ausländisches Kapital anzuziehen und Kapitalhilfe von den Regierungen der reicheren Länder zu erhalten, zeigt deutlich, daß sie genau wissen, was ihnen fehlt.

Man kann die Beliebtheit, deren sich die Wachstumsforschung heute erfreut, nur verstehen, wenn man sie als eine neue Phase in dem Kampfe gegen Sparen und Kapitalbildung und in der Empfehlung des “spending” als Allheilmittel erkannt hat.

III.

M. Tugan-Baranovsky, Emil Lederer, W.T. Foster und W. Catchings, John Maynard Keynes haben mehr oder weniger offen gelehrt, daß Sparen und Kapitalbildung nutzlos oder selbst dem Gemeinwohl schädlich wären. Ihre Beweisführung, noch vor wenigen Jahren viel bewundert, wird heute allgemein abgelehnt. Man spricht heute mehr von Kapitalmangel als vom “Widersinn des Sparens”.

Alle Regierungen und alle politischen Parteien wollen mehr investieren und wissen sehr wohl, daß nur in dem Ausmaß investiert werden kann, in dem neues Kapital gebildet wurde. Nichtsdestoweniger halten sie an Maßnahmen fest, die die Bildung von neuem Kapital erschweren und Aufzehrung von Teilen des bereits früher gebildeten und angelegten Kapitals bewirken. Daß in den kapitalistischen Ländern Westeuropas und Nordamerikas die Kapitalausstattung (auf den Kopf der Bevölkerung gerechnet) noch immer wächst, ist allein dem Um- (162) stande zuzuschreiben, daß die Steuerpolitik und die "Sozial"politik es noch nicht vermocht haben, all das durchzuführen, was die Schriften der “fortschrittlichen” Schriftsteller und die Programme der Linksparteien als angemessen bezeichnen. Die Bestrebungen der Sozialisten, das, was sie “Lücken” der Gesetzgebung nennen, zu schließen und so den Steuerzahlern alle weitere Kapitalbildung unmöglich zu machen, können heute nicht mehr auf die Unterstützung durch die abgetane Lehre von den üblen Folgen der Kapitalbildung rechnen. Da kommt die Lehre vom Wachstum recht gelegen. In ihrer Betrachtungsweise erscheint die Zunahme der Kapitalgütermenge nur als ein Element unter vielen anderen, die zusammenwirken, um Wachstum hervorzubringen. Die Folgen, die die Beeinträchtigung eines dieser Elemente nach sich zieht, können durch stärkeres Wachstum anderer Elemente wettgemacht werden. Man darf daher, wenn andere Wachstumsfaktoren nicht gehemmt werden, die der Kapitalbildung und selbst der Kapitalerhaltung abträgliche Politik fortführen, ohne das Wachstum zu gefährden.

IV.

Der Wachstumslehre fällt im Rahmen der antikapitalistischen und prosozialistischen Wirtschaftspolitik noch eine andere Aufgabe zu. Sie soll das Versagen der sozialistischen Wirtschaftspolitik in Rußland verschleiern.

Die sozialistische Lehre aller Richtungen verspricht, die Lebenshaltung der Massen beträchtlich zu verbessern. Sie behauptet, daß die kapitalistische Produktionsweise die Ergiebigkeit der Produktion hemme und so künstlich Knappheit erzeuge. Überdies würden die knappen Mittel ungleich verteilt; einige wenige dürfen in Überfluß schwelgen, wogegen die ungeheure Mehrzahl Not leide. Der Sozialismus werde die von einer verkehrten Gesellschaftsordnung errichteten Hemmnisse der Produktion und damit die Knappheit der Genußgüterversorgung beseitigen. Ohne Ausnahme erwarten alle Spielarten des Sozialismus von der Verwirklichung ihrer Pläne eine gewaltige Verbesserung der durchschnittlichen Lebenshaltung. Die Volkstümlichkeit der sozialistischen Parteien, die ihnen bei den Wahlen Stimmen zuführt und in Revolutionen Kämpfer, ist auf diese Erwartungen zurückzuführen.

Im Sinne dieser Gedankengänge haben die russischen Bolschewiken gleich nach der Machtübernahme versprochen, daß sie in wenigen Jahren die Lebenshaltung der russischen Massen nicht nur über den Stand unter dem zaristischen Regime, sondern auch über den Stand der kapitalistischen Länder des Westens heben werden. Immer wieder wurden diese Zusagen erneuert.

(163) Es gibt eine ziemlich brauchbare Methode für den Vergleich der Lage der russischen Arbeiter mit der der Arbeiter in Westeuropa und Nordamerika. Auf Grund von Lohn- und Preistabellen errechnet man, wie lange ein Arbeiter arbeiten muß, um einen bestimmten Gebrauchs- oder Verbrauchsgegenstand zu erwerben. Die Methode ist gewiß recht roh, da sie die Qualität der Kaufgüter nicht berücksichtigen kann. Obgleich die aus diesem Mangel entstehenden Fehler die russische Lage günstiger erscheinen lassen, zeigen diese Vergleiche immer wieder, daß die Lebenshaltung der Arbeiter im kapitalistischen Westen beträchtlich besser ist als im kommunistischen Osten. Auch die eifrigsten Verfechter sozialistischer Ideen haben die Schlüssigkeit dieser Beweisführung nicht zu bestreiten gewagt. Sie ziehen es vor, einen anderen Weg zur Ermittlung des Tatbestandes einzuschlagen, den Vergleich der Quote des Wachstums.

Den Ausgangspunkt bildet die äußerst anfechtbare Messung des Nationalprodukts. Auch wenn wir annehmen wollten, daß die Berechnung der einzelnen Posten, deren Summierung die als Nationalprodukt bezeichnete Größe ergibt, verläßlich ist, bleibt doch die Tatsache, daß die Bewertung notwendigerweise in Geld von veränderlicher Kaufkraft vorgenommen wird. Auch wenn wir nicht in einem Zeitalter wilden inflationistischen Experimentierens leben würden, müßte man die Versuche, die Größe des Nationalprodukts in Geld zu messen, als unzulässige Naivität ablehnen.

Auf Grund solcher in jeder Hinsicht anfechtbaren Berechnungen ermittelt man die prozentuelle jährliche Wachstumsquote. Da die statistischen Ämter der Sowjets dafür sorgen, daß diese Quote für Rußland höher erscheint als für die Vereinigten Staaten, sind sie in der Lage zu berechnen, wann Rußland die Vereinigten Staaten wirtschaftlich überholt haben wird.

Das Trügerische dieser Methode erhellt, wenn man erkennt, daß mit ihrer Hilfe auch gezeigt werden kann, wann einer der neuen afrikanischen Staaten in seinem “Wachstum” sowohl die Vereinigten Staaten als auch die Sowjet-Union überholt haben wird. Ein Zuwachs an Produktion von derselben Größe bedeutet in einem weniger entwickelten Gebiet einen weit höheren prozentuellen Zuwachs als in einem besser entwickelten. Ein Zuwachs von X Einheiten zur bereits früher produzierten Größe von Y Einheiten mag in einem Falle a vH Zuwachs, in einem anderen Falle ein Mehrfaches von a vH bedeuten. Es wäre gut, wenn sich die Freunde der Wachstum-Metapher daran erinnern wollten, daß es unzulässig ist, die prozentuale Gewichtszunahme eines Säuglings mit der eines älteren Kindes zu vergleichen, ohne auf den Alters- und Gewichtsunterschied zu achten.

V.


(164) Noch in einem andern Sinne dient die Wachstumslehre der Verkennung der geschichtlichen Wahrheit. Sie verzerrt vollkommen das Bild, das sich unsere Zeitgenossen von dem größten weltpolitischen Tatbestand der letzten hundertfünfzig Jahre, der Ausbreitung der materiellen Errungenschaften der europäischen Zivilisation über alle Teile der Erdoberfläche, machen. Das System der Kapitalanlage im Ausland, nicht etwa “Wachstum”, war es, das den Völkern Asiens und Afrikas den Weg eröffnete, auf dem sie sich, falls sie die Fähigkeit dazu haben, die geistige Kultur des Westens werden aneignen können. Wie immer man den Gehalt der westeuropäisch-nordamerikanischen Gesittung einschätzen mag und ob man den Untergang des bodenständigen Brauchtums der Völker des Ostens bedauert oder billigt, man darf von diesen Dingen nicht in der Weise handeln, in der es die herrschenden Auffassungen von Imperialismus und Kolonialwirtschaft tun. Was wären alle diese Völker Afrikas, Asiens und Lateinamerikas heute, wenn ihnen nicht zuerst England, dann die übrigen Länder Westeuropas und schließlich aus Nordamerika die Mittel zur Ausbildung ihres Verkehrswesens und zur Verwertung ihrer Naturschätze zur Verfügung gestellt hätten? Die Volkswirtschaften dieser Länder sind nicht spontan “gewachsen”; sie sind durch Kapitalzufuhr von außen befruchtet und gefördert worden. Doch davon wollen die nicht sprechen, die Enteignung ausländischen Kapitals “Befreiung” nennen.

VI.

Wachstum erscheint in der Wachstumslehre als ein der Einwirkung der einzelnen handelnden Menschen entrückter Vorgang. Doch die Lehre wäre nicht ein Stück der “neuen” Wirtschaftslehre, wenn sie nicht annehmen würde, daß die Größe des jährlichen Wachstums vom Staat beeinflußt, ja vom Staat beliebig festgesetzt werden kann.

In den politischen und wirtschaftspolitischen Kämpfen in den Vereinigten Staaten dreht es sich neben anderen Dingen auch um die Größe der von der Bundesregierung zu bestimmenden Rate des Wachstums. Man schreibt und spricht, als ob es im Belieben der Regierung stünde, Wachstum bestimmten Umfangs anzuordnen. Man empfiehlt zu diesem Zwecke verschiedene sozialpolitische Maßnahmen. Man streitet um das Ausmaß einer jährlich vorzunehmenden prozentuellen Erweiterung des Geldumlaufs. Doch man vermeidet es, von dem einen Gegenstand zu reden, auf den es in diesem Zusammenhang allein ankommt, von der Größe der Bildung neuen Kapitals. Man hält an einer Steuergesetzgebung fest, die geradezu darauf ausgeht, Kapitalbildung zu erschweren.

(165) Lange kann es so nicht bleiben. Auf die Dauer wird alles, was über Wachstum vorgebracht wurde, den wahren Tatbestand nicht zu verhüllen vermögen. Man wird neu lernen müssen, daß alle Ziele, denen die Wirtschaftspolitik zustrebt, nur durch fortschreitende Vermehrung der zur Verfügung stehenden Kapitalgüter erreicht werden können.

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(1) Vgl. z. B.: J. R. M’Culloch, The Principles of Political Economy. 4th ed. Edinburgh and London 1849. S. 397 ff.

 

Das Buch Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur gibt es bei buchausgabe.de.